Nachtcafé-Geschichte: Neues Kapitel
Die Nachtcafé-Geschichte ist bei der letzten Fortsetzung zum atemlosen Thriller mit explosiver Handlung geworden. Weiter geht’s mit der nächsten Folge am Freitag, 29.11. beim nächsten Nachtcafè (Eintritt frei).
Hier der letzte Teil, Kapitel 3: (Die gesamte Nachtcafé-Geschichte mit den früheren Teilen finden Sie hier.)
Kapitel 3 — Das Deltamännchen
„Hören Sie niemals auf zu atmen, das ist der erste Schritt.“ Ich höre die Stimme meiner Therapeutin in meinem Kopf und versuche, mich an ihren Rat zu halten. Sandy zieht mich am Kragen in Richtung des Ausgangs, meine Füße folgen, ohne dass ich ihnen Befehle gebe.
„Wieso bist du, Hohlkopf, in die Bank gegangen?“, meckert Sandy, während wir zwischen den Sandsteinsäulen hindurchrennen. Die Straße füllt sich bereits mit Schaulustigen.
„Also, erst dachte ich, dass der Gerichtsvollzieher vor meiner Tür steht, aber dann … mein Handy ist aus und … und es gab keine Oompa-Loompas in der Schaumkussfabrik!“
„Was?“ Sandy schaut mich verwirrt an und drückt mich dann gegen eine der Säulen. „Vorsicht.“ Ein grün-gelb karierter Bus brettert an uns vorbei. Aus den Lautsprechern tönen blecherne Parolen, die ich nicht verstehe. Blut rauscht in meinen Ohren, mir wird schwindelig. Ich fühle noch Sandys Hand, aber ich sehe sie kaum noch hinter einem schwarzen Schleier.
„Und was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht?“, dröhnt die Stimme meiner Therapeutin streng in meinem Kopf. Sandy drückt mich nach unten, und wir verstecken uns hinter einem Gebüsch. Ich zittere. „Was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht? Wenn die Anfälle zu schlimm werden?“
Ich liege zitternd auf dem Boden und höre Menschen auf der Hauptstraße schreien. Sandy schüttelt mich.
„Wir zoomen raus.“
„Was redest’n du da?“, Sandys Stimme scheint weit weg zu sein.
„Ganz richtig“, höre ich zufrieden die Stimme der Therapeutin. „Wir zoomen raus. Wir verschaffen uns Übersicht, und aus der Übersicht heraus ist alles gar nicht so schlimm. Wir sind am Ende alle nur Affen, nur Tiere.“
Ich zoome raus, das kann ich – ich bin nicht mehr im schwarzen Loch. Ich sehe mich, ich liege zitternd auf dem Boden, Sandy neben mir, sie hält mich. Chaos auf der Straße. Weitere grün karierte Mützen strömen aus dem Bus. Sandy versucht, mich wegzuziehen, aber ich reagiere nicht, ich bin nutzlos.
„Wir sind am Ende alle Affen, nur Tiere“, beruhige ich mich. Ich entspanne mich. Wir sind nur Tiere, so ist es, so muss ich es sehen, so geht es nur, Übersicht zu bewahren:
Das Männchen, das eben noch zitternd auf dem Boden lag, rappelt sich auf. Das Weibchen mit der karierten Mütze zieht unser Männchen nach oben. An seinem unterwürfigen Verhalten dem Weibchen gegenüber sehen wir leicht, dass es sich um ein Betamännchen handelt.
„Ich bin kein Beta!“, ruft das Männchen in die Luft, während es von dem Weibchen über die Straße gezogen wird, wie ein verweichlichtes Deltamännchen.
„Was bist du nicht?“, brüllt das Weibchen.
„Mann, das ist ja noch viel schlimmer.“
„Was denn?“, schreit das Weibchen dem verweichlichten Deltamännchen zu.
„Die Tierdoku in meinem Kopf sagt, ich wäre ein Delta – nicht so wichtig.“ Das Männchen versucht, seine Paarungsfähigkeit dem Weibchen gegenüber zu beweisen, indem es so tut, als würde gerade keine Tierdokumentation in seinem Kopf ablaufen, die alles dokumentiert, was er sagt.
„Ich will mich gar nicht paaren“, schreit das Männchen verzweifelt.
„Dann sind wir ja einer Meinung. Komm, hier verstecken wir uns“, erwidert das Weibchen, und gemeinsam rennen sie auf einen besonderen Bau des Habitats zu. Der Homo sapiens verbringt oft Jahre und riesige Mengen an Ressourcen, um solche Bauten zu errichten, nur um dann regelmäßig darin zu sitzen und geduldig in einer Gruppe zu schweigen oder monotone Laute von sich zu geben. Von außen wirken sie wie prächtige Steinhöhlen, in denen man Glanz und Protz erwartet, doch drinnen findet man oft harte Holzbänke – eine merkwürdige Wahl für ein Tier, das bequemere Sitzgelegenheiten erfunden hat.
„Du willst dich in der Kirche verstecken?“
„Ja. Sei jetzt ruhig.“
„Wo ist Sandy? Warum hat es hier nicht geklappt?“, ruft ein beeindruckendes Männchen auf der anderen Straßenseite neben dem Bus. Seine Größe, der angenehme tiefe Bariton seiner Stimme und die breiten Schultern machen ihn trotz einer grün-gelb karierten Mütze zum natürlichen Alphamännchen des kleinen Rudels, das sich gerade um ihn herum bildet.
„Sie ist total durchgedreht. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.“
Das Alphamännchen verengt seine Augen und kreuzt die Arme, um Überlegenheit und Nachdenken zu zeigen.
„Sucht sie“, befiehlt er seiner Gruppe, indem er mit seinem ausgeprägten Kinn nickt, und sie strömen auseinander, um eine Spur aufzunehmen.
Das Betamännchen und das Weibchen haben den Bau erreicht. Das Weibchen öffnet die Tür.
„Mann, du hast mir das alles echt versaut“, sagt das Weibchen und wirft sich auf eine der unbequemen Sitzgelegenheiten in diesem Raum des gemeinsamen Schweigens. Es atmet lange aus, seine Körperhaltung deutet auf Müdigkeit hin.
„Es tut mir leid“, stammelt das Betamännchen, das immer noch am Eingang steht, unfähig zu entscheiden, ob es sich zu dem Weibchen setzen soll oder auf eine der anderen Sitzgelegenheiten, die immer noch zu Hunderten in diesem Raum stehen – als Erinnerung daran, dass es einmal Zeiten gab, in denen sich mehr Individuen der Gemeinschaft zum gemeinsamen Murmeln und Schweigen trafen. „Was … was habe ich dir denn versaut?“
„Naja, heute ist der Tag, der Tag, an dem sich alles ändern sollte.“ Das Weibchen schaut mitleidig auf das Deltamännchen. „Was ist denn ein Deltamännchen?“
„Naja, Alphas sind die Anführer, Betas sind die Mitläufer, Gammas sind so für sich, und dann gibt es noch Deltas, die werden gejagt.“
Das Weibchen schaut das Deltamännchen einen Moment an. „Und du glaubst, du bist ein–“ Sie stockt und schaut zur Tür. „Versteck dich.“ Damit wirft sie sich zwischen die unbequemen Sitzgelegenheiten, und das Betamännchen macht einen Sprung zu ihr. Die Tür des Baus öffnet sich, und ein drahtiges Betamännchen schleicht hinein. Seine schmalen Augen blicken in den großen Raum. Seine Lefzen sind nach oben gezogen, seine Körperhaltung signalisiert Angriffslust.
„Oh, Sandy!“, ruft er, und es hallt von den Wänden des Baus wider. „Sag mal, Sandy, bist du hier?“ Lauernd streift der Jäger durch den Raum. Seine Beute, das Deltamännchen und das Weibchen, schieben sich geduckt über den Steinboden durch die Reihen.
„Hast du kalte Füße bekommen, Sandy? Willst jetzt wohl aussteigen, was?“ Der Jäger nutzt hier sein Wissen über seine Beute, um diese dazu zu bewegen, ihre Deckung zu verlassen. Er ist jetzt an einem Ende des Baus, dort, wo beim gemeinsamen Schweigen immer ein ganz besonderes Exemplar der Gattung steht und lauter murmelt als alle anderen.
„Er ist beim Altar. Was machen wir?“, flüstert das Deltamännchen.
„Schnell, hier rein.“ Das Weibchen zieht das Deltamännchen hinter sich her, öffnet eine Tür und schiebt es in einen braunen Kasten. Es ist ein ganz besonderer brauner Kasten im Habitat des Homo sapiens, ein Kasten für das Flüstern für Fortgeschrittene. Er sieht aus, als hätte man eine winzige Telefonzelle aus dem 19. Jahrhundert in der Ecke vergessen – er ist abgedunkelt und so schmal, als wolle man den Besucher gleich darauf vorbereiten, dass hier nichts Angenehmes passieren wird. Dennoch tritt der gemeine Homo sapiens bereitwillig ein, als wäre es ein Privileg, sich in eine Holzkammer zu quetschen, die etwa so viel Beinfreiheit bietet wie ein Flug in der Holzklasse.
Das Deltamännchen drückt sich in eine Ecke des Kastens und versucht, keinen Körperkontakt zum Weibchen aufzubauen. Das Weibchen schaut durch das kleine Fenster des Flüsterkastens hinaus.
Das Deltamännchen lehnt sich an das kleine Bänkchen der Flüsterkammer.
„Er geht zur Tür. Warte … warte … er geht wieder“, flüstert das Weibchen und zeigt Anzeichen von Entspannung. Das Deltamännchen setzt sich auf das kleine Bänkchen und – es knarzt. Verdutzt schaut das Deltamännchen zum Weibchen. Dann hören sie den Jäger: „Wusst ich’s doch, dass du da bist!“, schreit der Jäger und springt schnell über die unbequemen Sitzgelegenheiten in Richtung der Flüsterkammer.
„Mach dich bereit!“, schreit das Weibchen, stößt die Tür der Flüsterkammer auf und das Betamännchen sieht die Fratze des Jägers auf sich zustürmen.
Fragen zur Fortsetzung (gestellt am 25.10. im Nachtcafé):
In welcher Beziehung steht das Alphamännchen zu Sandy?
— Er ist ihr Ex. (6 stimmten dafür.)
— Er ist ihr Vater. (8 stimmten dafür)
— Er ist ihr Schwippschwager. (17 stimmten dafür)
Wo hat das Alphamännchen in Herxheim sein Lager aufgeschlagen?
— Sandbahn (10 stimmten dafür)
— Chawwerusch-Theater (13 stimmten dafür)
Wie reagiert der Protagonist auf den Angriff des Jägers?
— Er fällt in Ohnmacht. (2 stimmten dafür)
— Er kämpft. (5 stimmten dafür)
— Ein Pfarrer rettet die beiden. (22 stimmten dafür)
Wer also miterleben will wie sich unser Deltamännchen mit der Hilfe von Sandy und einem Pfarrer aus der Kirche kämpft und wie die beiden dann auf das Alphamännchen Sandys Schwippschwager im Chawwerusch-Theater treffen, der sollte am 29.11. um 21 Uhr zum nächsten Nachtcafé kommen.