Die Nachtcafé-Geschichte

Bei unse­rer offe­nen Büh­ne, dem Nacht­ca­fé, ent­steht gera­de eine span­nen­de Fort­set­zungs­ge­schich­te gemein­sam mit den Gäs­ten. Die Nacht­ca­fé-Geschich­te geht wei­ter am Frei­tag, 20.12. beim nächs­ten Nacht­cafè (Ein­tritt frei).

Hier fin­den Sie die bis­he­ri­gen Kapi­tel zum Nachlesen:

Kapitel 1 — Der Bus

1%
553
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Ich weiß bis heu­te nicht, wel­cher Kobold mich dazu zwingt, Zah­len in mei­nem Kopf zu wie­der­ho­len – wie­der und wie­der. Da ist die ste­ti­ge Panik sie zu ver­ges­sen. Ich ver­traue mei­ner Zukunfts­ver­si­on ein­fach nicht. Ich glau­be stets, sie ist ein biss­chen düm­mer als ich. Mein Gegen­warts-Ich kann sich die drei Zif­fer leicht mer­ken aber ob mein Zukunfts-Ich in drei oder vier Minu­ten auch noch klug sein wird? Wer weiß! Bes­ser kein Risi­ko ein­ge­hen. Und die Zahl wiederholen.

Immer noch 1%

553
553
Das war die Num­mer des Bus­ses, den ich in Rülz­heim wür­de neh­men müs­sen. Nicht falsch ein­stei­gen! Kei­ne Chan­ce, dass ich in Rülz­heim noch ein­mal auf mein Han­dy schau­en kön­nen wür­de – seit Minu­ten sah ich 1% auf der Anzei­ge. Jeden Augen­blick wür­de es aus­ge­hen. Dann müss­te ich mich wie ein Höh­len­mensch im Wirr­warr des ÖPNVs nur auf mei­ne Instink­te und auf mein Wis­sen verlassen.

553
Ich wür­de den Bus schon fin­den. Der klei­ne Bild­schirm im Zug zeig­te mir, dass die über­nächs­te Sta­ti­on Rülz­heim sei. Ich stand schon­mal auf. Wit­ze und Memes plopp­ten in mei­nem Kopf auf, von den Deut­schen die immer so früh an der Tür stan­den. Haha – aber mein Han­dy war fast leer und ich muss­te den Bus bekommen!

Bell­heim – noch nicht mei­ne Station.
Die Dop­pel­tür öff­net sich mit einem Zischen. Neue Pas­sa­gie­re ste­hen bereit, sie tre­ten instink­tiv auf die Sei­te um mir Platz zu machen. Aber ich will ja gar nicht aus­stei­gen! Eine Schreck­se­kun­de ste­hen wir so vor­ein­an­der, ohne Augen­kon­takt. Ich hab nie Augen­kon­takt im Zug. Dann klap­pe ich mich auf und pres­se mei­nen Rücken gegen die Ple­xi­glas­schei­be neben der Tür. Die neu­en Pas­sa­gie­re stei­gen ein.
Schnell an mir vor­bei rau­schen: Kin­der mit zu gro­ßen Schul­ran­zen, alte Leu­te – sie rau­schen an mir vor­bei, dann fla­ckert etwas auf, nur kurz. Ein Nacken – hoch­ge­bun­de­ne Haa­re, die unter einer karier­ten Kap­pe ver­schwin­den, ein win­zi­ger Pfef­fer­fleck unter den Baby­haa­ren im Nacken.
Ich blin­zel­te und der Moment war vor­bei. Ich hab nicht hin­ter­her gese­hen, son­dern hoch zur Anzei­ge­ta­fel. Nächs­ter Halt: Rülz­heim. Ich hole mein Han­dy her­vor und bli­cke auf den schwar­zen Bildschirm.

553!
Der Zug fährt eine lan­ge Kur­ve, über einen blin­ken­den Bahn­über­gang, dann quiet­schen die Bremsen.

Rülz­heim – mei­ne Station
Ich stell mich auf. Mein Blick geht durch mein Spie­gel­bild in der Glas­tür hin­durch auf die Wie­se am Rand des Bahn­hofs. In der Sekun­de bevor die Tür sich öff­net, sehe ich ein wei­te­res Spie­gel­bild, das ver­schwom­men neben mei­nes tritt, ich sehe noch die karier­te Kap­pe und grü­ne Augen. Dann wie­der ein Zischen und die Türen glei­ten auf die Sei­te. Unser gemein­sa­mes Bild ist ver­schwun­den. Ich schau nicht zur Seite.

Ner­vös stei­ge ich aus.
553 – ich mache mich bereit auf einem geschäf­ti­gen Bahn­hof unter zahl­lo­sen blin­ken­den Anzei­ge­ta­feln zwi­schen Schul­kin­dern, Rent­nern und Berufs­pend­lern mei­ne Num­mer zu suchen. Eilig wür­de ich zu mei­nem Bus schrei­ten müs­sen. 553. Ich bie­ge um den Zug her­um, und schaue – auf einen ein­sam war­ten­den Bus!
Nein nein, es ist kein Bus! Das Ding, das da war­tet, holt viel­leicht Men­schen für ein Wohn­heim ab oder lie­fert Piz­za aus. Ein Büschen im bes­ten Fall. Ich nähe­re mich.

553 – die Zahl leuch­tet ein­deu­tig in unan­ge­neh­mem Oran­ge auf mich herab.
Kein Zwei­fel mehr, das ist mein Bus. Wie könn­te es auch anders sein, auf dem Park­platz des gro­ßen Bahn­hofs steht nur die­ses Ding.
Die Tür öff­net sich und die mit­tel­al­te Bus­fah­re­rin schaut gelang­weilt aus ihrem Fens­ter wäh­rend ich vor­bei­ge­he. Ich set­ze mich und bin ein biss­chen stolz, dass ich es ganz ohne Han­dy in den Bus geschafft habe.

Ich schaue auf mei­ne Knie, weil ich nichts mit mir anzu­fan­gen weiß, wenn ich nichts zu lesen habe, kei­ne Musik zu hören kei­ne Vide­os zu schau­en sind. Ich spü­re sofort, wie die Ner­vo­si­tät in mir auf­steigt – ich muss ein­fach dasitzen!
Ver­dammt, ich hat­te nicht geschaut, wie weit Herx­heim von Rülz­heim weg ist. Wer weiß wie lang ich jetzt hier ohne Ablen­kung sit­zen muss. Doch dann – ich wuss­te es noch bevor ich es gese­hen habe – jemand hat sich auf den Platz vor mir gesetzt. Einen Moment lang sah ich noch auf mei­ne Knie, dann lang­sam auf, über dem Kra­gen einer blau­en Jacke war da der Nacken. Die Baby­haa­re, die hoch­ge­bun­de­nen Haa­re, die sich unter der karier­ten Kap­pe ver­steck­ten, das Mut­ter­mal am Haaransatz.

Der Bus fuhr los, hin­aus durchs Dorf, rechts wie­der über die Bahn­schie­nen und hin­aus auf eine klei­ne Land­stra­ße. Ein sanf­ter Hügel zur rech­ten, fla­ches Land bis zum Hori­zont auf der lin­ken Sei­te. Rüben – ein rie­si­ger Hau­fen Rüben am Stra­ßen­rand – mei­ne Augen flie­gen zwi­schen dem rech­ten und dem lin­ken Fens­ter hin und her. Also woll­te ich ver­mei­den gera­de­aus zu sehen! Das Mut­ter­mal, ein Dorf – Herx­heim – mein Ziel! Nein oder? Nein, da stand noch mehr – das Schild ist vor­bei. Der Bus ist zwar win­zig, aber er ist immer noch zu breit für die schma­le Dorf­stra­ße mit den gepark­ten Autos. Lang­sam, zäh von Lücke zu Lücke, arbei­tet sich die mit­tel­al­te Bus­fah­re­rin vor­an durch das Dorf, das irgend­wie was mit Herx­heim heißt, aber auch irgend­wie was anderes.

War­um ist mein Han­dy aus? Wie­der Land­stra­ße. Links und rechts jetzt Gewächs­häu­ser aus müden Foli­en, die im lau­en Wind wackeln. Eine Tank­stel­le ohne Dach – ein auf­re­gend aus­se­hen­der ALDI im Hin­ter­grund, dann wie­der eine viel zu enge Dorfstraße.
Wie­der Kampf um jeden Meter, den wir vorankommen.
Die karier­te Kap­pe lehnt jetzt an der Fens­ter­schei­be. Ein Teil von mir malt sich, ohne dass ich es will, aus, wie die grü­nen Augen auf das vor­bei­zie­hen­de Dorf (oder Städt­chen?) schau­en. Nicht wich­tig. Län­ger als ich es gewollt hat­te, sehe ich hin.

Dann hält der Bus.

Kapitel 2 — Der Geldautomat

Scho­ko­küs­se.
Ich sehe eine Kir­che. Das wird das Orts­zen­trum sein. Ich schaue auf mein Han­dy – ich sehe nur den schwar­zen Bild­schirm. Ich weiß nicht, wo ich hin muss. Kir­che, Orts­zen­trum – na, das wird schon pas­sen, wie weit kann es schon sein? Ich sehe im Augen­win­kel, wie die karier­te Müt­ze aufsteht.
Und ich sehe ihre grü­nen Augen, wie­der nur für einen Wim­pern­schlag. Zwei Schrit­te – sie geht an mir vor­bei. Mit einem lei­sen Zischen öff­net sich die Tür, sie steigt aus. Ich ste­he jetzt erst auf.
Eine Kir­che, ein Park­platz – die Frau mit der karier­ten Müt­ze geht ziel­stre­big in Rich­tung der Kir­che, einen klei­nen Hügel hin­auf. Ihren grü­nen Ruck­sack trägt sie in der Hand. Ich fol­ge ihr und hof­fe, dass sie bald abbiegt. Ich kom­me mir lang­sam vor wie ein klei­ner Creep.
Ich gehe extra etwas lang­sa­mer, sie soll ja nicht den­ken, dass ich sie verfolge.
Sie wech­selt die Stra­ßen­sei­te, sie setzt sich in eine Eis­die­le unter Bäu­men neben einem eigen­ar­ti­gen Brun­nen, gegen­über von einem gro­ßen Gebäu­de mit Sand­stein­säu­len. Nicht ein­mal kurz sehe ich hin, sie setzt sich, sie schaut in mei­ne Rich­tung – ich dre­he mich schnell weg.
Ich gehe wei­ter, ich habe ein Ziel.
Schokokussfabrik.
Das Wort schwingt in mei­nem Kopf. Ich male mir bun­te Flie­sen aus und Mes­sing­roh­re, ich sehe Räder, die sich freu­dig dre­hen, und schrill pfei­fen­de Maschi­nen. Ich sehe För­der­bän­der mit Scho­ko­küs­sen durch bun­te Hal­len fah­ren. Ich sehe Ange­stell­te mit rüschen­be­setz­ten Schür­zen und hohen, gestärk­ten Koch­müt­zen an den Scho­ko­küs­sen arbei­ten – all das unter­malt von sanf­ter Musik.
Ich bie­ge um die Ecke und sehe das gro­ße, indus­trie­ro­man­ti­sche Fenster.
Scho­ko­kuss­fa­brik. Ich öff­ne die Tür – gleich wer­de ich ein­tau­chen in eine Welt vol­ler … ein lee­rer Raum. Das ist nur ein schnö­der, lee­rer Raum. Da ste­hen zwei Ver­kaufs­ti­sche mit Kas­sen dar­auf. Kein Mensch. Ich gehe wie­der vor die Tür, ich schaue auf die Öff­nungs­zei­ten, es ist geöff­net. Ich gehe wie­der rein – ein sozi­al kom­pe­ten­te­rer Mensch hät­te jetzt viel­leicht geru­fen, das weiß ich. Hät­te sich irgend­wie bemerk­bar gemacht. Ich ste­he ein­fach nur so herum.
Ich schaue um eine Ecke in ein Lager, ich grinse.
Palet­ten vol­ler Kar­tons. Ich ste­he zwi­schen den unter­schied­li­chen Geschmä­ckern. Aber ich weiß, ich soll die Stan­dard­scho­ko­küs­se mit­neh­men. Immer noch ist kei­ner da. Unschlüs­sig ste­he ich vor der Palet­te. Soll man sie sich ein­fach so neh­men? War­um gibt es hier nicht eine Klin­gel? War­um hängt hier nicht ein Schild, das einem sagt, was man zu tun hat?
Ich ste­he da wie jemand, der gera­de kurz davor ist, eine Straf­tat zu bege­hen. Atme aus und grei­fe nach der Schachtel.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Mein Gehirn feu­ert, wäh­rend ich mich umdre­he. Die Stim­me wirk­te freund­lich, aber – wer weiß. Ein sehr jun­ger Mann sieht mich freund­lich an. Ich bin ent­täuscht. Kei­ne Koch­müt­ze, kei­ne Schür­ze mit Rüschen, kein ein­zi­ger Oom­pa Loom­pa um ihn her­um. Der jun­ge Ver­käu­fer steht da vor sei­nem Büro in einem gewöhn­li­chen T‑Shirt und ich füh­le mich um mei­ne Scho­ko­kuss­fa­brik­fan­ta­sie betro­gen. Ich habe ja nicht erwar­tet, dass er mir mit Zylin­der und Stock gegen­über­steht, aber wenigs­tens eine älte­re Dame mit Lach­fal­ten, das hät­te schon sein dürfen.
„Ein­mal 25 ohne alles?“
Ich nicke und hal­te ihm mei­ne Kar­te entgegen.
„Beep“ – Vor­gang lei­der nicht möglich.
Für Men­schen, die ihr Leben bes­ser im Griff haben als ich, ist das kein Problem.
Vor­gang lei­der nicht möglich.
Sie haben eine Über­sicht über ihre Kon­to­stän­de und ihre Aus­ga­ben. Für mich bricht jedes Mal eine Welt zusam­men: Oh je – ich bin plei­te, irgend­wie bin ich plei­te und habe es gar nicht gewusst. Ver­mut­lich war­tet der Zoll vor mei­nem Haus – oder der Gerichts­voll­zie­her. Ein Leben in bit­te­rer Armut fla­ckert vor mei­nem inne­ren Auge.
„Ach Mist. Das Lese­ge­rät geht schon wie­der nicht. Das Pro­blem haben wir gera­de ständig.“
Hoff­nung. Es lag nicht an mir.
„Kön­nen Sie es bar zahlen?“
„Nein. Gibt es hier eine Bank? Dann bin ich gleich wie­der da.“
Han­dy­los, poten­zi­ell plei­te und immer noch ohne Scho­ko­küs­se, bin ich jetzt wie­der auf dem Weg zu den Sand­stein­säu­len zu der Bank gegen­über dem Brun­nen. Auf dem Weg sehe ich noch einen jun­gen Mann gera­de in einer Volks­bank ver­schwin­den, er fällt mir nur des­we­gen auf, weil er die glei­che karier­te Müt­ze trägt wie die jun­ge Frau. Ich sehe den Brun­nen mit den Ein­hör­nern. Mein Blick geht rüber zu dem schat­ti­gen Eis­ca­fé unter den Bäu­men. Da sitzt sie und – sie schaut zu mir hin­über. Ich sehe noch ein klei­nes Kopf­schüt­teln und fra­ge mich, was das soll. Dann schiebt sich ein Bus zwi­schen uns.
Ich dre­he mich um und öff­ne die Tür zur Spar­kas­se, ich wun­de­re mich noch, da steht ein Kerl mit einer grün-gelb karier­ten Mütze.
Lang­sam ist das unheim­lich – oder viel­leicht nur ein Mode­trend, den ich wie­der nicht mit­be­kom­men habe. Er ist in sein Han­dy ver­tieft und grüßt mich nicht.
Ich bin drin, gehe zum Geld­au­to­ma­ten. Etwas in mei­nem Augen­win­kel for­dert mei­ne Auf­merk­sam­keit. Hin­ter einem der Müll­ei­mer in der Ecke sehe ich grü­nen Stoff. Stoff, den ich ken­ne – der Ruck­sack der Frau mit der karier­ten Kap­pe. Ich muss grin­sen, sie wird sich freu­en, wenn ich ihn ihr schnell rüber­brin­ge ins Eis­ca­fé, viel­leicht sucht sie ihn schon. Ich wun­de­re mich noch, dass er so schwer ist.
„Ist da jemand drin?“ höre ich plötz­lich eine Frau­en­stim­me vor der Bank. „Du soll­test doch achtgeben.“
„Ich glau­be nicht, dass da jemand drin ist. Jetzt ist eh zu spät.“, mur­melt ein Kerl.
Plötz­lich höre ich eine ble­cher­ne Ansa­ge, die durch die Stra­ßen hallt wie von uralten Laut­spre­chern: „3“
Wie­der die Stim­me der Frau: „Du glaubst? Bist du eigent­lich total bescheuert?“
„Mach schon, San­dy!“, der Kerl wird nervös.
„1“
„Bin dabei.“ Die Tür öff­net sich. Die Frau steht da im Ein­gang, ihre grü­nen Augen sind auch unter dem Schild ihrer karier­ten Kap­pe noch zu sehen. San­dy! Sie sieht mich ent­geis­tert an. Dann geht ihr Blick auf die Tasche in mei­ner Hand. Ihre Nasen­spit­ze wird weiß. In ihrer Hand eine klei­ne Fern­be­die­nung mit einem gro­ßen roten Knopf.
„Sag mal, was machst du denn da?“
„0“
„Los, San­dy.“ höre ich die Stim­me des Man­nes von draußen.
Dann ein Schlag, dumpf, von außen. Nein, kein Schlag, ein Don­ner? Nein, es war eine Explo­si­on. Sie kam von unten, auf der ande­ren Sei­te an der Kreu­zung. Die Volks­bank! Der Mann mit der karier­ten Kappe!
San­dy mit der karier­ten Kappe.
San­dy mit dem Aus­lö­ser in der Hand.
Mir wird klar, was ich in der Hand habe. Ich schaue hin­ab, in mei­ner zit­tern­den Hand hal­te ich Sandys …
„San­dy, was ist da los? War­um höre ich nichts?“
„Nur ein tech­ni­sches Problem.“
„Renn weg. Sie kommen.“

 

Kapitel 3 — Das Deltamännchen

„Hören Sie nie­mals auf zu atmen, das ist der ers­te Schritt.“ Ich höre die Stim­me mei­ner The­ra­peu­tin in mei­nem Kopf und ver­su­che, mich an ihren Rat zu hal­ten. San­dy zieht mich am Kra­gen in Rich­tung des Aus­gangs, mei­ne Füße fol­gen, ohne dass ich ihnen Befeh­le gebe.
„Wie­so bist du, Hohl­kopf, in die Bank gegan­gen?“, meckert San­dy, wäh­rend wir zwi­schen den Sand­stein­säu­len hin­durch­ren­nen. Die Stra­ße füllt sich bereits mit Schaulustigen.
„Also, erst dach­te ich, dass der Gerichts­voll­zie­her vor mei­ner Tür steht, aber dann … mein Han­dy ist aus und … und es gab kei­ne Oom­pa-Loom­pas in der Schaumkussfabrik!“
„Was?“ San­dy schaut mich ver­wirrt an und drückt mich dann gegen eine der Säu­len. „Vor­sicht.“ Ein grün-gelb karier­ter Bus bret­tert an uns vor­bei. Aus den Laut­spre­chern tönen ble­cher­ne Paro­len, die ich nicht ver­ste­he. Blut rauscht in mei­nen Ohren, mir wird schwin­de­lig. Ich füh­le noch San­dys Hand, aber ich sehe sie kaum noch hin­ter einem schwar­zen Schleier.
„Und was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht?“, dröhnt die Stim­me mei­ner The­ra­peu­tin streng in mei­nem Kopf. San­dy drückt mich nach unten, und wir ver­ste­cken uns hin­ter einem Gebüsch. Ich zit­te­re. „Was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht? Wenn die Anfäl­le zu schlimm werden?“
Ich lie­ge zit­ternd auf dem Boden und höre Men­schen auf der Haupt­stra­ße schrei­en. San­dy schüt­telt mich.
„Wir zoo­men raus.“
„Was redest’n du da?“, San­dys Stim­me scheint weit weg zu sein.
„Ganz rich­tig“, höre ich zufrie­den die Stim­me der The­ra­peu­tin. „Wir zoo­men raus. Wir ver­schaf­fen uns Über­sicht, und aus der Über­sicht her­aus ist alles gar nicht so schlimm. Wir sind am Ende alle nur Affen, nur Tiere.“
Ich zoo­me raus, das kann ich – ich bin nicht mehr im schwar­zen Loch. Ich sehe mich, ich lie­ge zit­ternd auf dem Boden, San­dy neben mir, sie hält mich. Cha­os auf der Stra­ße. Wei­te­re grün karier­te Müt­zen strö­men aus dem Bus. San­dy ver­sucht, mich weg­zu­zie­hen, aber ich reagie­re nicht, ich bin nutzlos.
„Wir sind am Ende alle Affen, nur Tie­re“, beru­hi­ge ich mich. Ich ent­span­ne mich. Wir sind nur Tie­re, so ist es, so muss ich es sehen, so geht es nur, Über­sicht zu bewahren:
Das Männ­chen, das eben noch zit­ternd auf dem Boden lag, rap­pelt sich auf. Das Weib­chen mit der karier­ten Müt­ze zieht unser Männ­chen nach oben. An sei­nem unter­wür­fi­gen Ver­hal­ten dem Weib­chen gegen­über sehen wir leicht, dass es sich um ein Beta­männ­chen handelt.
„Ich bin kein Beta!“, ruft das Männ­chen in die Luft, wäh­rend es von dem Weib­chen über die Stra­ße gezo­gen wird, wie ein ver­weich­lich­tes Deltamännchen.
„Was bist du nicht?“, brüllt das Weibchen.
„Mann, das ist ja noch viel schlimmer.“
„Was denn?“, schreit das Weib­chen dem ver­weich­lich­ten Del­ta­männ­chen zu.
„Die Tier­do­ku in mei­nem Kopf sagt, ich wäre ein Del­ta – nicht so wich­tig.“ Das Männ­chen ver­sucht, sei­ne Paa­rungs­fä­hig­keit dem Weib­chen gegen­über zu bewei­sen, indem es so tut, als wür­de gera­de kei­ne Tier­do­ku­men­ta­ti­on in sei­nem Kopf ablau­fen, die alles doku­men­tiert, was er sagt.
„Ich will mich gar nicht paa­ren“, schreit das Männ­chen verzweifelt.
„Dann sind wir ja einer Mei­nung. Komm, hier ver­ste­cken wir uns“, erwi­dert das Weib­chen, und gemein­sam ren­nen sie auf einen beson­de­ren Bau des Habi­tats zu. Der Homo sapi­ens ver­bringt oft Jah­re und rie­si­ge Men­gen an Res­sour­cen, um sol­che Bau­ten zu errich­ten, nur um dann regel­mä­ßig dar­in zu sit­zen und gedul­dig in einer Grup­pe zu schwei­gen oder mono­to­ne Lau­te von sich zu geben. Von außen wir­ken sie wie präch­ti­ge Stein­höh­len, in denen man Glanz und Protz erwar­tet, doch drin­nen fin­det man oft har­te Holz­bän­ke – eine merk­wür­di­ge Wahl für ein Tier, das beque­me­re Sitz­ge­le­gen­hei­ten erfun­den hat.
„Du willst dich in der Kir­che verstecken?“
„Ja. Sei jetzt ruhig.“
„Wo ist San­dy? War­um hat es hier nicht geklappt?“, ruft ein beein­dru­cken­des Männ­chen auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te neben dem Bus. Sei­ne Grö­ße, der ange­neh­me tie­fe Bari­ton sei­ner Stim­me und die brei­ten Schul­tern machen ihn trotz einer grün-gelb karier­ten Müt­ze zum natür­li­chen Alpha­männ­chen des klei­nen Rudels, das sich gera­de um ihn her­um bildet.
„Sie ist total durch­ge­dreht. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.“
Das Alpha­männ­chen ver­engt sei­ne Augen und kreuzt die Arme, um Über­le­gen­heit und Nach­den­ken zu zeigen.
„Sucht sie“, befiehlt er sei­ner Grup­pe, indem er mit sei­nem aus­ge­präg­ten Kinn nickt, und sie strö­men aus­ein­an­der, um eine Spur aufzunehmen.
Das Beta­männ­chen und das Weib­chen haben den Bau erreicht. Das Weib­chen öff­net die Tür.
„Mann, du hast mir das alles echt ver­saut“, sagt das Weib­chen und wirft sich auf eine der unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten in die­sem Raum des gemein­sa­men Schwei­gens. Es atmet lan­ge aus, sei­ne Kör­per­hal­tung deu­tet auf Müdig­keit hin.
„Es tut mir leid“, stam­melt das Beta­männ­chen, das immer noch am Ein­gang steht, unfä­hig zu ent­schei­den, ob es sich zu dem Weib­chen set­zen soll oder auf eine der ande­ren Sitz­ge­le­gen­hei­ten, die immer noch zu Hun­der­ten in die­sem Raum ste­hen – als Erin­ne­rung dar­an, dass es ein­mal Zei­ten gab, in denen sich mehr Indi­vi­du­en der Gemein­schaft zum gemein­sa­men Mur­meln und Schwei­gen tra­fen. „Was … was habe ich dir denn versaut?“
„Naja, heu­te ist der Tag, der Tag, an dem sich alles ändern soll­te.“ Das Weib­chen schaut mit­lei­dig auf das Del­ta­männ­chen. „Was ist denn ein Deltamännchen?“
„Naja, Alphas sind die Anfüh­rer, Betas sind die Mit­läu­fer, Gam­mas sind so für sich, und dann gibt es noch Del­tas, die wer­den gejagt.“
Das Weib­chen schaut das Del­ta­männ­chen einen Moment an. „Und du glaubst, du bist ein–“ Sie stockt und schaut zur Tür. „Ver­steck dich.“ Damit wirft sie sich zwi­schen die unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten, und das Beta­männ­chen macht einen Sprung zu ihr. Die Tür des Baus öff­net sich, und ein drah­ti­ges Beta­männ­chen schleicht hin­ein. Sei­ne schma­len Augen bli­cken in den gro­ßen Raum. Sei­ne Lef­zen sind nach oben gezo­gen, sei­ne Kör­per­hal­tung signa­li­siert Angriffslust.
„Oh, San­dy!“, ruft er, und es hallt von den Wän­den des Baus wider. „Sag mal, San­dy, bist du hier?“ Lau­ernd streift der Jäger durch den Raum. Sei­ne Beu­te, das Del­ta­männ­chen und das Weib­chen, schie­ben sich geduckt über den Stein­bo­den durch die Reihen.
„Hast du kal­te Füße bekom­men, San­dy? Willst jetzt wohl aus­stei­gen, was?“ Der Jäger nutzt hier sein Wis­sen über sei­ne Beu­te, um die­se dazu zu bewe­gen, ihre Deckung zu ver­las­sen. Er ist jetzt an einem Ende des Baus, dort, wo beim gemein­sa­men Schwei­gen immer ein ganz beson­de­res Exem­plar der Gat­tung steht und lau­ter mur­melt als alle anderen.
„Er ist beim Altar. Was machen wir?“, flüs­tert das Deltamännchen.
„Schnell, hier rein.“ Das Weib­chen zieht das Del­ta­männ­chen hin­ter sich her, öff­net eine Tür und schiebt es in einen brau­nen Kas­ten. Es ist ein ganz beson­de­rer brau­ner Kas­ten im Habi­tat des Homo sapi­ens, ein Kas­ten für das Flüs­tern für Fort­ge­schrit­te­ne. Er sieht aus, als hät­te man eine win­zi­ge Tele­fon­zel­le aus dem 19. Jahr­hun­dert in der Ecke ver­ges­sen – er ist abge­dun­kelt und so schmal, als wol­le man den Besu­cher gleich dar­auf vor­be­rei­ten, dass hier nichts Ange­neh­mes pas­sie­ren wird. Den­noch tritt der gemei­ne Homo sapi­ens bereit­wil­lig ein, als wäre es ein Pri­vi­leg, sich in eine Holz­kam­mer zu quet­schen, die etwa so viel Bein­frei­heit bie­tet wie ein Flug in der Holzklasse.
Das Del­ta­männ­chen drückt sich in eine Ecke des Kas­tens und ver­sucht, kei­nen Kör­per­kon­takt zum Weib­chen auf­zu­bau­en. Das Weib­chen schaut durch das klei­ne Fens­ter des Flüs­ter­kas­tens hinaus.
Das Del­ta­männ­chen lehnt sich an das klei­ne Bänk­chen der Flüsterkammer.
„Er geht zur Tür. War­te … war­te … er geht wie­der“, flüs­tert das Weib­chen und zeigt Anzei­chen von Ent­span­nung. Das Del­ta­männ­chen setzt sich auf das klei­ne Bänk­chen und – es knarzt. Ver­dutzt schaut das Del­ta­männ­chen zum Weib­chen. Dann hören sie den Jäger: „Wusst ich’s doch, dass du da bist!“, schreit der Jäger und springt schnell über die unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten in Rich­tung der Flüsterkammer.
„Mach dich bereit!“, schreit das Weib­chen, stößt die Tür der Flüs­ter­kam­mer auf und das Beta­männ­chen sieht die Frat­ze des Jägers auf sich zustürmen.

 

Kapitel 4 — Das Theater

Das gemei­ne Opos­sum ist ein Meis­ter der Täu­schung. Bei Bedro­hung stellt es sich toter als die Kar­rie­re eines Rea­li­ty-TV-Stars nach Staf­fel zwei. Sei­ne Stra­te­gie? Ein­fach flach hin­le­gen, den Mund leicht öff­nen und dar­auf hof­fen, dass der Fress­feind den Appe­tit ver­liert. Eine genia­le Tak­tik, die auf Instinkt, Schau­spiel­kunst und einer Pri­se Faul­heit basiert. Tot­stel­len, die Welt aus­blen­den – das ist der ulti­ma­ti­ve Akt der Unter­wer­fung eines schein­bar rück­grat­lo­sen Wesens.
Unser Del­ta­männ­chen hat in die­ser gro­ßen Stress­si­tua­ti­on eine ganz ähn­li­che Stra­te­gie. Wäh­rend der Jäger auf ihn zustürmt, wirft es sich auf den Boden der Kis­te und hört den hage­ren Kör­per des Beta­männ­chens gegen die Wän­de der Box krachen.
„Ver­damm­te Schei­ße, was soll das denn?“, schreit das Weib­chen San­dy das Beta­männ­chen an, das sich gera­de auf­rap­pelt. „Du bist mitt­ler­wei­le genau­so irre wie Thorhardt!“
„Wie wer?“, stam­melt das Del­ta­männ­chen. „Thor­hardt! Du hast ihn vor­hin gese­hen. Er ist ihr – er ist unser Anführer.“
„Thor­hardt…“ Der Name hallt in den Gedan­ken des Del­ta­männ­chens wider. Der männ­lichs­te Name, den man sich nur vor­stel­len kann. Klingt wie jemand, der Holz mit blo­ßen Hän­den spal­tet, Bier aus einem Fels­bro­cken zapft und sei­ne Steu­er­erklä­rung auf einem Amboss schreibt. Thorhardt!
„Oh, San­dy“, das Beta­männ­chen lau­ert in den Tie­fen der Kis­te und schaut mit gebeug­tem Kopf hin­aus zum Weib­chen, sei­ne Augen fun­keln, „tu nicht so, als ob du bes­ser bist. Das hier war doch dein Vorschlag.“
„Das war dein Vor­schlag?“, fragt das Del­ta­männ­chen ent­täuscht das Weib­chen. „Ja, viel­leicht. Ich hab ja nicht wis­sen kön­nen… Ich wuss­te nicht, dass Thor­hardt so weit gehen würde.“
„Du und Thor­hardt, seid ihr…“, das schwä­cheln­de Del­ta­männ­chen kann den Satz nicht been­den. Zu sehr hat es sich schon in die Träu­me einer gemein­sa­men Paa­rung mit dem Weib­chen gestei­gert, als dass die Nach­richt von einem sehr viel begeh­rens­wer­te­ren männ­li­chen Exem­plar ihn nicht schmerz­haft tref­fen könnte.
„Ja. Ja, sind wir. Thor­hardt und ich.“ „Genug jetzt mit die­sem Gela­ber“, keift das Beta­männ­chen in der Dun­kel­heit der Kis­te. „Ihr kommt jetzt mit.“ Es greift in sei­ne Tasche und zieht etwas her­vor, das den Homo sapi­ens von allen ande­ren Spe­zi­es unter­schei­det – sein Ein­falls­reich­tum und der ste­ti­ge Wunsch, neue Din­ge zu ent­wi­ckeln, um das Leben sei­ner Art­ge­nos­sen zu ver­kür­zen. Hun­dert­tau­send Jah­re Evo­lu­ti­on haben zu gegen­über­lie­gen­den Dau­men und beweg­li­chen Zei­ge­fin­gern geführt. Der gemei­ne Homo-sapi­ens-Mann hat die Form sei­ner vor­de­ren Extre­mi­tä­ten genau betrach­tet und eine Waf­fe ent­wi­ckelt, die nicht nur per­fekt in sei­ne Hän­de passt, son­dern auch die beque­me Mög­lich­keit bie­tet, Gewalt zu maxi­mie­ren und dabei die eige­ne Fit­ness mini­mal zu bean­spru­chen. Das Kon­zept? Eine Minia­tur-Kano­ne, die das Prin­zip „Puff und Peng“ in eine Art trag­ba­re Phi­lo­so­phie verwandelt.
„Shit, er hat ’ne Pis­to­le“, stam­melt das Deltamännchen.
„Rich­tig gese­hen! Und ihr zwei kommt jetzt mit. Thor­hardt hat sei­ne Basis auf­ge­schla­gen und berei­tet gera­de Stu­fe zwei vor.“
Das Weib­chen und das Del­ta­männ­chen heben die Arme – ein Zei­chen ihrer Unter­wer­fung unter die Macht des Puff-und-Peng-Stabs. „Sag doch ein­fach Pis­to­le“, mur­melt das Deltamännchen.
„Was?“, fragt das Beta­männ­chen und macht einen schnel­len Schritt auf ihn zu.
„Lass ihn, er hat ’ne Tier­do­ku im Kopf“, ver­sucht das Weib­chen ihn zu beru­hi­gen. „Hä?“ „Frag ein­fach nicht.“
„Na egal, ihr kommt jetzt mit – und kein Rum­ge­ham­pel mehr!“ „Nein, das glaub ich nicht“, erwi­dert das Weib­chen. „Was denkst du, war­um ich hier­her geflo­hen bin? Ich bin nicht die, die Angst haben muss. „Was ist das jetzt für ein Spiel? Wo sind wir hier?“

„Ihr seid in mei­ner Kir­che“, dröhnt plötz­lich eine tie­fe, vol­le Stim­me durch die wei­te Halle.
Das Weib­chen, das Del­ta­männ­chen und das hage­re Männ­chen mit dem Puff-und-Peng-Stab dre­hen sich um – und da steht er. Die impo­san­tes­te Erschei­nung seit der Tei­lung des Roten Mee­res. Eine leben­di­ge Legen­de, ein wan­deln­des Kreuz aus tes­to­ste­ron­ge­la­de­ner Prä­senz und uner­schüt­ter­li­chem Glauben.
Jeder Schritt hallt durch das hei­li­ge Gemäu­er, als wür­de er die Archi­tek­tur selbst dar­an erin­nern, wer hier das Sagen hat. Der schwar­ze Talar sitzt per­fekt – kei­ne Fal­ten, kein Makel, als hät­te ihn Gott selbst gebü­gelt. Die Sto­la hängt um sei­nen brei­ten Nacken wie ein Krie­ger­um­hang, und das Kol­lar schim­mert im Licht der Ker­zen, als wäre es aus rei­nem Stahl gefer­tigt. Ein Männ­chen wie ein Wolf: ein­sam, mäch­tig, angst­ein­flö­ßend. Das Gammamännchen.
„Was bis­ten du en Pfarrer?“
„Du hast jetzt zwei Mög­lich­kei­ten, mein Sohn. Du bereust dei­ne Sün­den, legst die­sen erbärm­li­chen Abklatsch einer Waf­fe bei­sei­te, und dann reden wir dar­über, was ihr mit mei­ner hüb­schen Gemein­de ange­stellt habt, oder –“ Das Gam­ma­männ­chen war­tet einen Augen­blick, führt den Satz aber nicht wei­ter aus.
Das Beta­männ­chen wird ner­vös. „Was denn? Was denn nun? Was ist, wenn ich es nicht mache?“
„Mat­thä­us, Kapi­tel 5, Vers 39.“
„Was?“
„Und wenn dich jemand auf dei­ne rech­te Wan­ge schlägt – dann trifft er dich ver­mut­lich auch auf der linken.“
„Aber das Zitat geht doch –“ Das Beta­männ­chen kommt nicht dazu, den Satz zu been­den, bevor die Pran­ke des Gam­mas zuschlägt. Zwei­mal, schnell, und das Beta­männ­chen fällt rück­lings in die Kiste.
„Nimm sei­ne Waf­fe, San­dy“, mur­melt das Gam­ma­männ­chen. „Dann lasst uns gehen.“
„Sie sind ein Pfar­rer?“, fragt das Del­ta­männ­chen klein­laut. „Nur ein guter Hirte.“
„Wohin— wohin gehen wir jetzt?“
„Zu Thor­hardt.“ Damit öff­net das Gam­ma­männ­chen die Tür des Stein­baus und tritt hin­aus. Gemein­sam tre­ten sie auf die Haupt­stra­ße. Die Hit­ze der Brän­de schlägt ihnen ent­ge­gen, als sie das umkämpf­te Herx­heim sehen. Glim­men­de Geld­schei­ne wir­beln durch die Luft, und ein tro­cke­ner Wüs­ten­busch rollt ein­sam über die Straße.
„War­um rollt da ein Busch? Wir sind in der Pfalz, nicht in der Wüste.“
„Es muss immer einen Busch geben“, sagt das Gam­ma­männ­chen ruhig und beginnt, die Stra­ße ent­lang­zu­lau­fen. Das Del­ta­männ­chen und das Weib­chen fol­gen ihm. Vor­bei an dem Haus mit den Stein­säu­len und der gespreng­ten Spar­kas­se, vor­bei am Brun­nen. Dort, vor ihnen, ver­sper­ren meh­re­re Bus­se die Stra­ße, auf­ge­reiht wie Bar­ri­ka­den. Auf den Dächern ste­hen Männ­chen und Weib­chen mit grim­mi­gen Bli­cken und grün-gelb karier­ten Müt­zen, die lau­ernd auf die Her­an­na­hen­den bli­cken. Dahin­ter arbei­ten wei­te­re Müt­zen eif­rig wie Amei­sen. Gro­ße Kabel wer­den ver­legt, zusam­men­ge­schlos­sen, ver­bun­den, aus allen Rich­tun­gen, sie mün­den in eine Rei­he klei­ner Fens­ter über einer Hof­ein­fahrt. Elek­tri­zi­tät knis­tern, es wird geschweißt und gebohrt.
„Sie haben also schon begon­nen.“, flüs­tert das Weib­chen und das Del­ta­männ­chen sieht ihren erschro­cke­nen Blick.„Was meinst du?“ „Siehst du, was sie da machen? Die Geld­au­to­ma­ten waren nur die Ablen­kung. Das dort – das ist Stu­fe 2.
“Das Del­ta­männ­chen sieht die Kabel, die aus allen Rich­tun­gen in die­ses eine Gebäu­de füh­ren. „Wo füh­ren die Kabel hin?“
„Natür­lich“, das Gam­ma­männ­chen nickt, „sie muss­ten das Thea­ter benutzen.“
„Das ist das Thea­ter?“ Bei die­sem Bau han­delt es sich um einen ganz beson­de­ren Ort inner­halb des Bio­tops des Homo sapi­ens. Es ist ein Ort der gemein­sa­men fröh­li­chen Wahn­vor­stel­lun­gen und des gegen­sei­ti­gen Belügens.
Die ers­ten Lügen begin­nen zumeist damit, dass die Natur des Homo sapi­ens der­ge­stalt ist, dass in jeder Part­ner­schaft die zwei Indi­vi­du­en ein­ge­hen mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit nur eines der bei­den Inter­es­se an die­ser Form der Wahn­vor­stel­lung hat. Für das bemit­lei­dens­wer­te zwei­te Exem­plar der Part­ner­schaft, das alle paar Wochen von sei­nem Part­ner an die­sen Ort gezo­gen wird, ist und bleibt es der Raum des freund­li­chen Ausharrens.
Und dann sind da die Exem­pla­re, die fürs Lügen bezahlt wer­den – und sogar beklatscht: die soge­nann­ten Schau­spie­ler. Wäh­rend ande­re Mit­glie­der der Spe­zi­es gele­gent­lich den Spaß an der Sache der gegen­sei­ti­gen Wahn­vor­stel­lun­gen erken­nen, sehen Schau­spie­ler ihre Teil­nah­me als hei­li­ge Mis­si­on, die Mensch­heit mit gro­ßen Ges­ten, brül­len­der Stim­me und bedeu­tungs­schwe­ren Pau­sen zu ret­ten. Die­se fas­zi­nie­ren­den Krea­tu­ren leben in einer Rea­li­tät, die gänz­lich von der Vor­stel­lung durch­drun­gen ist, dass das Publi­kum wirk­lich glaubt, sie sei­en der däni­sche Prinz, ein fran­zö­si­scher Offi­zier oder – im schlimms­ten Fall – ein spre­chen­der Baum.
Das Del­ta­männ­chen wird aus sei­nen Gedan­ken geris­sen, als ein Bus bei­sei­te­ge­scho­ben wird und den Blick frei­gibt auf Thor­hardt, das Alpha­männ­chen. Mit ver­schränk­ten Armen steht er da, lächelnd, umge­ben von den ande­ren Mit­glie­dern sei­ner Herde.
„San­dy. Du bist wie­der da. Sehr gut, wir sind gleich fer­tig, dann kann Stu­fe 2 beginnen.“
„Das ist er, oder? Das ist dein–“, flüs­tert das Del­ta­männ­chen, wäh­rend die drei auf das Thea­ter zulau­fen. „Ja“, sagt das Weib­chen ernst, „Thor­hardt ist mein Schwippschwager.“
„Dein– dann, dann seid ihr zwei nicht?“
„Was?“
„Ihr seid nicht – ihr paart euch nicht?“
„Was – äh, nein. Du bist echt manch­mal ein klei­ner Freak“, sagt das Weib­chen und schüt­telt den Kopf. Das Del­ta­männ­chen sieht aber ein klei­nes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Ja, bin ich viel­leicht.“ Nur irgend­wie schafft es das Del­ta­männ­chen, eben­falls ein wenig zu grin­sen, bei dem Gedan­ken, dass er nur der Schwipp­schwa­ger ist. Wäh­rend die drei dem Alpha­männ­chen durch einen Tor­bo­gen in das Inne­re des Thea­ters folgen.
„Was kommt jetzt?“, fragt das Del­ta­männ­chen zag­haft das Gam­ma­männ­chen neben sich.
„Ora et labo­ra – jetzt kommt der Teil mit labo­ra.“

Fra­gen zur Fort­set­zung (gestellt am 29.11. im Nachtcafé):

Was ist Stu­fe 2 ?
— Ein Fest (3 stimm­ten dafür.)
— Den Schatz von Her­xi heben (11 stimm­ten dafür)
— Macht­über­nah­me (5 stimm­ten dafür)
— Das Ein­horn auf die Büh­ne brin­gen (26 stimm­ten dafür)

Was müs­sen die Hel­den tun/opfern um das zu verhindern?
— Die Müt­ze opfern (2stimmten dafür)
— Einer muss für alle Zei­ten als Ein­horn auf dem Brun­nen ste­hen (19 stimm­ten dafür)
— Sand­bahn beto­nie­ren (5 stimm­ten dafür)

Wer also hören möch­te, wie unser Del­ta­männ­chen zusam­men mit San­dy und dem Pfar­rer Thor­hardts Plan umset­zen wird und das Ein­horn auf die Büh­ne bekommt, indem sie die Sand­bahn beto­nie­ren, der muss am 20.12.2024 um 21 Uhr ins Nacht­ca­fé kommen!

 

Euer Dani­lo Fioriti