Die Nachtcafé-Geschichte
Bei unserer offenen Bühne, dem Nachtcafé, entsteht gerade eine spannende Fortsetzungsgeschichte gemeinsam mit den Gästen. Die Nachtcafé-Geschichte geht weiter am Freitag, 20.12. beim nächsten Nachtcafè (Eintritt frei).
Hier finden Sie die bisherigen Kapitel zum Nachlesen:
Kapitel 1 — Der Bus
1%
553
553
553
Ich weiß bis heute nicht, welcher Kobold mich dazu zwingt, Zahlen in meinem Kopf zu wiederholen – wieder und wieder. Da ist die stetige Panik sie zu vergessen. Ich vertraue meiner Zukunftsversion einfach nicht. Ich glaube stets, sie ist ein bisschen dümmer als ich. Mein Gegenwarts-Ich kann sich die drei Ziffer leicht merken aber ob mein Zukunfts-Ich in drei oder vier Minuten auch noch klug sein wird? Wer weiß! Besser kein Risiko eingehen. Und die Zahl wiederholen.
Immer noch 1%
553
553
Das war die Nummer des Busses, den ich in Rülzheim würde nehmen müssen. Nicht falsch einsteigen! Keine Chance, dass ich in Rülzheim noch einmal auf mein Handy schauen können würde – seit Minuten sah ich 1% auf der Anzeige. Jeden Augenblick würde es ausgehen. Dann müsste ich mich wie ein Höhlenmensch im Wirrwarr des ÖPNVs nur auf meine Instinkte und auf mein Wissen verlassen.
553
Ich würde den Bus schon finden. Der kleine Bildschirm im Zug zeigte mir, dass die übernächste Station Rülzheim sei. Ich stand schonmal auf. Witze und Memes ploppten in meinem Kopf auf, von den Deutschen die immer so früh an der Tür standen. Haha – aber mein Handy war fast leer und ich musste den Bus bekommen!
Bellheim – noch nicht meine Station.
Die Doppeltür öffnet sich mit einem Zischen. Neue Passagiere stehen bereit, sie treten instinktiv auf die Seite um mir Platz zu machen. Aber ich will ja gar nicht aussteigen! Eine Schrecksekunde stehen wir so voreinander, ohne Augenkontakt. Ich hab nie Augenkontakt im Zug. Dann klappe ich mich auf und presse meinen Rücken gegen die Plexiglasscheibe neben der Tür. Die neuen Passagiere steigen ein.
Schnell an mir vorbei rauschen: Kinder mit zu großen Schulranzen, alte Leute – sie rauschen an mir vorbei, dann flackert etwas auf, nur kurz. Ein Nacken – hochgebundene Haare, die unter einer karierten Kappe verschwinden, ein winziger Pfefferfleck unter den Babyhaaren im Nacken.
Ich blinzelte und der Moment war vorbei. Ich hab nicht hinterher gesehen, sondern hoch zur Anzeigetafel. Nächster Halt: Rülzheim. Ich hole mein Handy hervor und blicke auf den schwarzen Bildschirm.
553!
Der Zug fährt eine lange Kurve, über einen blinkenden Bahnübergang, dann quietschen die Bremsen.
Rülzheim – meine Station
Ich stell mich auf. Mein Blick geht durch mein Spiegelbild in der Glastür hindurch auf die Wiese am Rand des Bahnhofs. In der Sekunde bevor die Tür sich öffnet, sehe ich ein weiteres Spiegelbild, das verschwommen neben meines tritt, ich sehe noch die karierte Kappe und grüne Augen. Dann wieder ein Zischen und die Türen gleiten auf die Seite. Unser gemeinsames Bild ist verschwunden. Ich schau nicht zur Seite.
Nervös steige ich aus.
553 – ich mache mich bereit auf einem geschäftigen Bahnhof unter zahllosen blinkenden Anzeigetafeln zwischen Schulkindern, Rentnern und Berufspendlern meine Nummer zu suchen. Eilig würde ich zu meinem Bus schreiten müssen. 553. Ich biege um den Zug herum, und schaue – auf einen einsam wartenden Bus!
Nein nein, es ist kein Bus! Das Ding, das da wartet, holt vielleicht Menschen für ein Wohnheim ab oder liefert Pizza aus. Ein Büschen im besten Fall. Ich nähere mich.
553 – die Zahl leuchtet eindeutig in unangenehmem Orange auf mich herab.
Kein Zweifel mehr, das ist mein Bus. Wie könnte es auch anders sein, auf dem Parkplatz des großen Bahnhofs steht nur dieses Ding.
Die Tür öffnet sich und die mittelalte Busfahrerin schaut gelangweilt aus ihrem Fenster während ich vorbeigehe. Ich setze mich und bin ein bisschen stolz, dass ich es ganz ohne Handy in den Bus geschafft habe.
Ich schaue auf meine Knie, weil ich nichts mit mir anzufangen weiß, wenn ich nichts zu lesen habe, keine Musik zu hören keine Videos zu schauen sind. Ich spüre sofort, wie die Nervosität in mir aufsteigt – ich muss einfach dasitzen!
Verdammt, ich hatte nicht geschaut, wie weit Herxheim von Rülzheim weg ist. Wer weiß wie lang ich jetzt hier ohne Ablenkung sitzen muss. Doch dann – ich wusste es noch bevor ich es gesehen habe – jemand hat sich auf den Platz vor mir gesetzt. Einen Moment lang sah ich noch auf meine Knie, dann langsam auf, über dem Kragen einer blauen Jacke war da der Nacken. Die Babyhaare, die hochgebundenen Haare, die sich unter der karierten Kappe versteckten, das Muttermal am Haaransatz.
Der Bus fuhr los, hinaus durchs Dorf, rechts wieder über die Bahnschienen und hinaus auf eine kleine Landstraße. Ein sanfter Hügel zur rechten, flaches Land bis zum Horizont auf der linken Seite. Rüben – ein riesiger Haufen Rüben am Straßenrand – meine Augen fliegen zwischen dem rechten und dem linken Fenster hin und her. Also wollte ich vermeiden geradeaus zu sehen! Das Muttermal, ein Dorf – Herxheim – mein Ziel! Nein oder? Nein, da stand noch mehr – das Schild ist vorbei. Der Bus ist zwar winzig, aber er ist immer noch zu breit für die schmale Dorfstraße mit den geparkten Autos. Langsam, zäh von Lücke zu Lücke, arbeitet sich die mittelalte Busfahrerin voran durch das Dorf, das irgendwie was mit Herxheim heißt, aber auch irgendwie was anderes.
Warum ist mein Handy aus? Wieder Landstraße. Links und rechts jetzt Gewächshäuser aus müden Folien, die im lauen Wind wackeln. Eine Tankstelle ohne Dach – ein aufregend aussehender ALDI im Hintergrund, dann wieder eine viel zu enge Dorfstraße.
Wieder Kampf um jeden Meter, den wir vorankommen.
Die karierte Kappe lehnt jetzt an der Fensterscheibe. Ein Teil von mir malt sich, ohne dass ich es will, aus, wie die grünen Augen auf das vorbeiziehende Dorf (oder Städtchen?) schauen. Nicht wichtig. Länger als ich es gewollt hatte, sehe ich hin.
Dann hält der Bus.
Kapitel 2 — Der Geldautomat
Schokoküsse.
Ich sehe eine Kirche. Das wird das Ortszentrum sein. Ich schaue auf mein Handy – ich sehe nur den schwarzen Bildschirm. Ich weiß nicht, wo ich hin muss. Kirche, Ortszentrum – na, das wird schon passen, wie weit kann es schon sein? Ich sehe im Augenwinkel, wie die karierte Mütze aufsteht.
Und ich sehe ihre grünen Augen, wieder nur für einen Wimpernschlag. Zwei Schritte – sie geht an mir vorbei. Mit einem leisen Zischen öffnet sich die Tür, sie steigt aus. Ich stehe jetzt erst auf.
Eine Kirche, ein Parkplatz – die Frau mit der karierten Mütze geht zielstrebig in Richtung der Kirche, einen kleinen Hügel hinauf. Ihren grünen Rucksack trägt sie in der Hand. Ich folge ihr und hoffe, dass sie bald abbiegt. Ich komme mir langsam vor wie ein kleiner Creep.
Ich gehe extra etwas langsamer, sie soll ja nicht denken, dass ich sie verfolge.
Sie wechselt die Straßenseite, sie setzt sich in eine Eisdiele unter Bäumen neben einem eigenartigen Brunnen, gegenüber von einem großen Gebäude mit Sandsteinsäulen. Nicht einmal kurz sehe ich hin, sie setzt sich, sie schaut in meine Richtung – ich drehe mich schnell weg.
Ich gehe weiter, ich habe ein Ziel.
Schokokussfabrik.
Das Wort schwingt in meinem Kopf. Ich male mir bunte Fliesen aus und Messingrohre, ich sehe Räder, die sich freudig drehen, und schrill pfeifende Maschinen. Ich sehe Förderbänder mit Schokoküssen durch bunte Hallen fahren. Ich sehe Angestellte mit rüschenbesetzten Schürzen und hohen, gestärkten Kochmützen an den Schokoküssen arbeiten – all das untermalt von sanfter Musik.
Ich biege um die Ecke und sehe das große, industrieromantische Fenster.
Schokokussfabrik. Ich öffne die Tür – gleich werde ich eintauchen in eine Welt voller … ein leerer Raum. Das ist nur ein schnöder, leerer Raum. Da stehen zwei Verkaufstische mit Kassen darauf. Kein Mensch. Ich gehe wieder vor die Tür, ich schaue auf die Öffnungszeiten, es ist geöffnet. Ich gehe wieder rein – ein sozial kompetenterer Mensch hätte jetzt vielleicht gerufen, das weiß ich. Hätte sich irgendwie bemerkbar gemacht. Ich stehe einfach nur so herum.
Ich schaue um eine Ecke in ein Lager, ich grinse.
Paletten voller Kartons. Ich stehe zwischen den unterschiedlichen Geschmäckern. Aber ich weiß, ich soll die Standardschokoküsse mitnehmen. Immer noch ist keiner da. Unschlüssig stehe ich vor der Palette. Soll man sie sich einfach so nehmen? Warum gibt es hier nicht eine Klingel? Warum hängt hier nicht ein Schild, das einem sagt, was man zu tun hat?
Ich stehe da wie jemand, der gerade kurz davor ist, eine Straftat zu begehen. Atme aus und greife nach der Schachtel.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Mein Gehirn feuert, während ich mich umdrehe. Die Stimme wirkte freundlich, aber – wer weiß. Ein sehr junger Mann sieht mich freundlich an. Ich bin enttäuscht. Keine Kochmütze, keine Schürze mit Rüschen, kein einziger Oompa Loompa um ihn herum. Der junge Verkäufer steht da vor seinem Büro in einem gewöhnlichen T‑Shirt und ich fühle mich um meine Schokokussfabrikfantasie betrogen. Ich habe ja nicht erwartet, dass er mir mit Zylinder und Stock gegenübersteht, aber wenigstens eine ältere Dame mit Lachfalten, das hätte schon sein dürfen.
„Einmal 25 ohne alles?“
Ich nicke und halte ihm meine Karte entgegen.
„Beep“ – Vorgang leider nicht möglich.
Für Menschen, die ihr Leben besser im Griff haben als ich, ist das kein Problem.
Vorgang leider nicht möglich.
Sie haben eine Übersicht über ihre Kontostände und ihre Ausgaben. Für mich bricht jedes Mal eine Welt zusammen: Oh je – ich bin pleite, irgendwie bin ich pleite und habe es gar nicht gewusst. Vermutlich wartet der Zoll vor meinem Haus – oder der Gerichtsvollzieher. Ein Leben in bitterer Armut flackert vor meinem inneren Auge.
„Ach Mist. Das Lesegerät geht schon wieder nicht. Das Problem haben wir gerade ständig.“
Hoffnung. Es lag nicht an mir.
„Können Sie es bar zahlen?“
„Nein. Gibt es hier eine Bank? Dann bin ich gleich wieder da.“
Handylos, potenziell pleite und immer noch ohne Schokoküsse, bin ich jetzt wieder auf dem Weg zu den Sandsteinsäulen zu der Bank gegenüber dem Brunnen. Auf dem Weg sehe ich noch einen jungen Mann gerade in einer Volksbank verschwinden, er fällt mir nur deswegen auf, weil er die gleiche karierte Mütze trägt wie die junge Frau. Ich sehe den Brunnen mit den Einhörnern. Mein Blick geht rüber zu dem schattigen Eiscafé unter den Bäumen. Da sitzt sie und – sie schaut zu mir hinüber. Ich sehe noch ein kleines Kopfschütteln und frage mich, was das soll. Dann schiebt sich ein Bus zwischen uns.
Ich drehe mich um und öffne die Tür zur Sparkasse, ich wundere mich noch, da steht ein Kerl mit einer grün-gelb karierten Mütze.
Langsam ist das unheimlich – oder vielleicht nur ein Modetrend, den ich wieder nicht mitbekommen habe. Er ist in sein Handy vertieft und grüßt mich nicht.
Ich bin drin, gehe zum Geldautomaten. Etwas in meinem Augenwinkel fordert meine Aufmerksamkeit. Hinter einem der Mülleimer in der Ecke sehe ich grünen Stoff. Stoff, den ich kenne – der Rucksack der Frau mit der karierten Kappe. Ich muss grinsen, sie wird sich freuen, wenn ich ihn ihr schnell rüberbringe ins Eiscafé, vielleicht sucht sie ihn schon. Ich wundere mich noch, dass er so schwer ist.
„Ist da jemand drin?“ höre ich plötzlich eine Frauenstimme vor der Bank. „Du solltest doch achtgeben.“
„Ich glaube nicht, dass da jemand drin ist. Jetzt ist eh zu spät.“, murmelt ein Kerl.
Plötzlich höre ich eine blecherne Ansage, die durch die Straßen hallt wie von uralten Lautsprechern: „3“
Wieder die Stimme der Frau: „Du glaubst? Bist du eigentlich total bescheuert?“
„Mach schon, Sandy!“, der Kerl wird nervös.
„1“
„Bin dabei.“ Die Tür öffnet sich. Die Frau steht da im Eingang, ihre grünen Augen sind auch unter dem Schild ihrer karierten Kappe noch zu sehen. Sandy! Sie sieht mich entgeistert an. Dann geht ihr Blick auf die Tasche in meiner Hand. Ihre Nasenspitze wird weiß. In ihrer Hand eine kleine Fernbedienung mit einem großen roten Knopf.
„Sag mal, was machst du denn da?“
„0“
„Los, Sandy.“ höre ich die Stimme des Mannes von draußen.
Dann ein Schlag, dumpf, von außen. Nein, kein Schlag, ein Donner? Nein, es war eine Explosion. Sie kam von unten, auf der anderen Seite an der Kreuzung. Die Volksbank! Der Mann mit der karierten Kappe!
Sandy mit der karierten Kappe.
Sandy mit dem Auslöser in der Hand.
Mir wird klar, was ich in der Hand habe. Ich schaue hinab, in meiner zitternden Hand halte ich Sandys …
„Sandy, was ist da los? Warum höre ich nichts?“
„Nur ein technisches Problem.“
„Renn weg. Sie kommen.“
Kapitel 3 — Das Deltamännchen
„Hören Sie niemals auf zu atmen, das ist der erste Schritt.“ Ich höre die Stimme meiner Therapeutin in meinem Kopf und versuche, mich an ihren Rat zu halten. Sandy zieht mich am Kragen in Richtung des Ausgangs, meine Füße folgen, ohne dass ich ihnen Befehle gebe.
„Wieso bist du, Hohlkopf, in die Bank gegangen?“, meckert Sandy, während wir zwischen den Sandsteinsäulen hindurchrennen. Die Straße füllt sich bereits mit Schaulustigen.
„Also, erst dachte ich, dass der Gerichtsvollzieher vor meiner Tür steht, aber dann … mein Handy ist aus und … und es gab keine Oompa-Loompas in der Schaumkussfabrik!“
„Was?“ Sandy schaut mich verwirrt an und drückt mich dann gegen eine der Säulen. „Vorsicht.“ Ein grün-gelb karierter Bus brettert an uns vorbei. Aus den Lautsprechern tönen blecherne Parolen, die ich nicht verstehe. Blut rauscht in meinen Ohren, mir wird schwindelig. Ich fühle noch Sandys Hand, aber ich sehe sie kaum noch hinter einem schwarzen Schleier.
„Und was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht?“, dröhnt die Stimme meiner Therapeutin streng in meinem Kopf. Sandy drückt mich nach unten, und wir verstecken uns hinter einem Gebüsch. Ich zittere. „Was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht? Wenn die Anfälle zu schlimm werden?“
Ich liege zitternd auf dem Boden und höre Menschen auf der Hauptstraße schreien. Sandy schüttelt mich.
„Wir zoomen raus.“
„Was redest’n du da?“, Sandys Stimme scheint weit weg zu sein.
„Ganz richtig“, höre ich zufrieden die Stimme der Therapeutin. „Wir zoomen raus. Wir verschaffen uns Übersicht, und aus der Übersicht heraus ist alles gar nicht so schlimm. Wir sind am Ende alle nur Affen, nur Tiere.“
Ich zoome raus, das kann ich – ich bin nicht mehr im schwarzen Loch. Ich sehe mich, ich liege zitternd auf dem Boden, Sandy neben mir, sie hält mich. Chaos auf der Straße. Weitere grün karierte Mützen strömen aus dem Bus. Sandy versucht, mich wegzuziehen, aber ich reagiere nicht, ich bin nutzlos.
„Wir sind am Ende alle Affen, nur Tiere“, beruhige ich mich. Ich entspanne mich. Wir sind nur Tiere, so ist es, so muss ich es sehen, so geht es nur, Übersicht zu bewahren:
Das Männchen, das eben noch zitternd auf dem Boden lag, rappelt sich auf. Das Weibchen mit der karierten Mütze zieht unser Männchen nach oben. An seinem unterwürfigen Verhalten dem Weibchen gegenüber sehen wir leicht, dass es sich um ein Betamännchen handelt.
„Ich bin kein Beta!“, ruft das Männchen in die Luft, während es von dem Weibchen über die Straße gezogen wird, wie ein verweichlichtes Deltamännchen.
„Was bist du nicht?“, brüllt das Weibchen.
„Mann, das ist ja noch viel schlimmer.“
„Was denn?“, schreit das Weibchen dem verweichlichten Deltamännchen zu.
„Die Tierdoku in meinem Kopf sagt, ich wäre ein Delta – nicht so wichtig.“ Das Männchen versucht, seine Paarungsfähigkeit dem Weibchen gegenüber zu beweisen, indem es so tut, als würde gerade keine Tierdokumentation in seinem Kopf ablaufen, die alles dokumentiert, was er sagt.
„Ich will mich gar nicht paaren“, schreit das Männchen verzweifelt.
„Dann sind wir ja einer Meinung. Komm, hier verstecken wir uns“, erwidert das Weibchen, und gemeinsam rennen sie auf einen besonderen Bau des Habitats zu. Der Homo sapiens verbringt oft Jahre und riesige Mengen an Ressourcen, um solche Bauten zu errichten, nur um dann regelmäßig darin zu sitzen und geduldig in einer Gruppe zu schweigen oder monotone Laute von sich zu geben. Von außen wirken sie wie prächtige Steinhöhlen, in denen man Glanz und Protz erwartet, doch drinnen findet man oft harte Holzbänke – eine merkwürdige Wahl für ein Tier, das bequemere Sitzgelegenheiten erfunden hat.
„Du willst dich in der Kirche verstecken?“
„Ja. Sei jetzt ruhig.“
„Wo ist Sandy? Warum hat es hier nicht geklappt?“, ruft ein beeindruckendes Männchen auf der anderen Straßenseite neben dem Bus. Seine Größe, der angenehme tiefe Bariton seiner Stimme und die breiten Schultern machen ihn trotz einer grün-gelb karierten Mütze zum natürlichen Alphamännchen des kleinen Rudels, das sich gerade um ihn herum bildet.
„Sie ist total durchgedreht. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.“
Das Alphamännchen verengt seine Augen und kreuzt die Arme, um Überlegenheit und Nachdenken zu zeigen.
„Sucht sie“, befiehlt er seiner Gruppe, indem er mit seinem ausgeprägten Kinn nickt, und sie strömen auseinander, um eine Spur aufzunehmen.
Das Betamännchen und das Weibchen haben den Bau erreicht. Das Weibchen öffnet die Tür.
„Mann, du hast mir das alles echt versaut“, sagt das Weibchen und wirft sich auf eine der unbequemen Sitzgelegenheiten in diesem Raum des gemeinsamen Schweigens. Es atmet lange aus, seine Körperhaltung deutet auf Müdigkeit hin.
„Es tut mir leid“, stammelt das Betamännchen, das immer noch am Eingang steht, unfähig zu entscheiden, ob es sich zu dem Weibchen setzen soll oder auf eine der anderen Sitzgelegenheiten, die immer noch zu Hunderten in diesem Raum stehen – als Erinnerung daran, dass es einmal Zeiten gab, in denen sich mehr Individuen der Gemeinschaft zum gemeinsamen Murmeln und Schweigen trafen. „Was … was habe ich dir denn versaut?“
„Naja, heute ist der Tag, der Tag, an dem sich alles ändern sollte.“ Das Weibchen schaut mitleidig auf das Deltamännchen. „Was ist denn ein Deltamännchen?“
„Naja, Alphas sind die Anführer, Betas sind die Mitläufer, Gammas sind so für sich, und dann gibt es noch Deltas, die werden gejagt.“
Das Weibchen schaut das Deltamännchen einen Moment an. „Und du glaubst, du bist ein–“ Sie stockt und schaut zur Tür. „Versteck dich.“ Damit wirft sie sich zwischen die unbequemen Sitzgelegenheiten, und das Betamännchen macht einen Sprung zu ihr. Die Tür des Baus öffnet sich, und ein drahtiges Betamännchen schleicht hinein. Seine schmalen Augen blicken in den großen Raum. Seine Lefzen sind nach oben gezogen, seine Körperhaltung signalisiert Angriffslust.
„Oh, Sandy!“, ruft er, und es hallt von den Wänden des Baus wider. „Sag mal, Sandy, bist du hier?“ Lauernd streift der Jäger durch den Raum. Seine Beute, das Deltamännchen und das Weibchen, schieben sich geduckt über den Steinboden durch die Reihen.
„Hast du kalte Füße bekommen, Sandy? Willst jetzt wohl aussteigen, was?“ Der Jäger nutzt hier sein Wissen über seine Beute, um diese dazu zu bewegen, ihre Deckung zu verlassen. Er ist jetzt an einem Ende des Baus, dort, wo beim gemeinsamen Schweigen immer ein ganz besonderes Exemplar der Gattung steht und lauter murmelt als alle anderen.
„Er ist beim Altar. Was machen wir?“, flüstert das Deltamännchen.
„Schnell, hier rein.“ Das Weibchen zieht das Deltamännchen hinter sich her, öffnet eine Tür und schiebt es in einen braunen Kasten. Es ist ein ganz besonderer brauner Kasten im Habitat des Homo sapiens, ein Kasten für das Flüstern für Fortgeschrittene. Er sieht aus, als hätte man eine winzige Telefonzelle aus dem 19. Jahrhundert in der Ecke vergessen – er ist abgedunkelt und so schmal, als wolle man den Besucher gleich darauf vorbereiten, dass hier nichts Angenehmes passieren wird. Dennoch tritt der gemeine Homo sapiens bereitwillig ein, als wäre es ein Privileg, sich in eine Holzkammer zu quetschen, die etwa so viel Beinfreiheit bietet wie ein Flug in der Holzklasse.
Das Deltamännchen drückt sich in eine Ecke des Kastens und versucht, keinen Körperkontakt zum Weibchen aufzubauen. Das Weibchen schaut durch das kleine Fenster des Flüsterkastens hinaus.
Das Deltamännchen lehnt sich an das kleine Bänkchen der Flüsterkammer.
„Er geht zur Tür. Warte … warte … er geht wieder“, flüstert das Weibchen und zeigt Anzeichen von Entspannung. Das Deltamännchen setzt sich auf das kleine Bänkchen und – es knarzt. Verdutzt schaut das Deltamännchen zum Weibchen. Dann hören sie den Jäger: „Wusst ich’s doch, dass du da bist!“, schreit der Jäger und springt schnell über die unbequemen Sitzgelegenheiten in Richtung der Flüsterkammer.
„Mach dich bereit!“, schreit das Weibchen, stößt die Tür der Flüsterkammer auf und das Betamännchen sieht die Fratze des Jägers auf sich zustürmen.
Kapitel 4 — Das Theater
Das gemeine Opossum ist ein Meister der Täuschung. Bei Bedrohung stellt es sich toter als die Karriere eines Reality-TV-Stars nach Staffel zwei. Seine Strategie? Einfach flach hinlegen, den Mund leicht öffnen und darauf hoffen, dass der Fressfeind den Appetit verliert. Eine geniale Taktik, die auf Instinkt, Schauspielkunst und einer Prise Faulheit basiert. Totstellen, die Welt ausblenden – das ist der ultimative Akt der Unterwerfung eines scheinbar rückgratlosen Wesens.
Unser Deltamännchen hat in dieser großen Stresssituation eine ganz ähnliche Strategie. Während der Jäger auf ihn zustürmt, wirft es sich auf den Boden der Kiste und hört den hageren Körper des Betamännchens gegen die Wände der Box krachen.
„Verdammte Scheiße, was soll das denn?“, schreit das Weibchen Sandy das Betamännchen an, das sich gerade aufrappelt. „Du bist mittlerweile genauso irre wie Thorhardt!“
„Wie wer?“, stammelt das Deltamännchen. „Thorhardt! Du hast ihn vorhin gesehen. Er ist ihr – er ist unser Anführer.“
„Thorhardt…“ Der Name hallt in den Gedanken des Deltamännchens wider. Der männlichste Name, den man sich nur vorstellen kann. Klingt wie jemand, der Holz mit bloßen Händen spaltet, Bier aus einem Felsbrocken zapft und seine Steuererklärung auf einem Amboss schreibt. Thorhardt!
„Oh, Sandy“, das Betamännchen lauert in den Tiefen der Kiste und schaut mit gebeugtem Kopf hinaus zum Weibchen, seine Augen funkeln, „tu nicht so, als ob du besser bist. Das hier war doch dein Vorschlag.“
„Das war dein Vorschlag?“, fragt das Deltamännchen enttäuscht das Weibchen. „Ja, vielleicht. Ich hab ja nicht wissen können… Ich wusste nicht, dass Thorhardt so weit gehen würde.“
„Du und Thorhardt, seid ihr…“, das schwächelnde Deltamännchen kann den Satz nicht beenden. Zu sehr hat es sich schon in die Träume einer gemeinsamen Paarung mit dem Weibchen gesteigert, als dass die Nachricht von einem sehr viel begehrenswerteren männlichen Exemplar ihn nicht schmerzhaft treffen könnte.
„Ja. Ja, sind wir. Thorhardt und ich.“ „Genug jetzt mit diesem Gelaber“, keift das Betamännchen in der Dunkelheit der Kiste. „Ihr kommt jetzt mit.“ Es greift in seine Tasche und zieht etwas hervor, das den Homo sapiens von allen anderen Spezies unterscheidet – sein Einfallsreichtum und der stetige Wunsch, neue Dinge zu entwickeln, um das Leben seiner Artgenossen zu verkürzen. Hunderttausend Jahre Evolution haben zu gegenüberliegenden Daumen und beweglichen Zeigefingern geführt. Der gemeine Homo-sapiens-Mann hat die Form seiner vorderen Extremitäten genau betrachtet und eine Waffe entwickelt, die nicht nur perfekt in seine Hände passt, sondern auch die bequeme Möglichkeit bietet, Gewalt zu maximieren und dabei die eigene Fitness minimal zu beanspruchen. Das Konzept? Eine Miniatur-Kanone, die das Prinzip „Puff und Peng“ in eine Art tragbare Philosophie verwandelt.
„Shit, er hat ’ne Pistole“, stammelt das Deltamännchen.
„Richtig gesehen! Und ihr zwei kommt jetzt mit. Thorhardt hat seine Basis aufgeschlagen und bereitet gerade Stufe zwei vor.“
Das Weibchen und das Deltamännchen heben die Arme – ein Zeichen ihrer Unterwerfung unter die Macht des Puff-und-Peng-Stabs. „Sag doch einfach Pistole“, murmelt das Deltamännchen.
„Was?“, fragt das Betamännchen und macht einen schnellen Schritt auf ihn zu.
„Lass ihn, er hat ’ne Tierdoku im Kopf“, versucht das Weibchen ihn zu beruhigen. „Hä?“ „Frag einfach nicht.“
„Na egal, ihr kommt jetzt mit – und kein Rumgehampel mehr!“ „Nein, das glaub ich nicht“, erwidert das Weibchen. „Was denkst du, warum ich hierher geflohen bin? Ich bin nicht die, die Angst haben muss. „Was ist das jetzt für ein Spiel? Wo sind wir hier?“
„Ihr seid in meiner Kirche“, dröhnt plötzlich eine tiefe, volle Stimme durch die weite Halle.
Das Weibchen, das Deltamännchen und das hagere Männchen mit dem Puff-und-Peng-Stab drehen sich um – und da steht er. Die imposanteste Erscheinung seit der Teilung des Roten Meeres. Eine lebendige Legende, ein wandelndes Kreuz aus testosterongeladener Präsenz und unerschütterlichem Glauben.
Jeder Schritt hallt durch das heilige Gemäuer, als würde er die Architektur selbst daran erinnern, wer hier das Sagen hat. Der schwarze Talar sitzt perfekt – keine Falten, kein Makel, als hätte ihn Gott selbst gebügelt. Die Stola hängt um seinen breiten Nacken wie ein Kriegerumhang, und das Kollar schimmert im Licht der Kerzen, als wäre es aus reinem Stahl gefertigt. Ein Männchen wie ein Wolf: einsam, mächtig, angsteinflößend. Das Gammamännchen.
„Was bisten du en Pfarrer?“
„Du hast jetzt zwei Möglichkeiten, mein Sohn. Du bereust deine Sünden, legst diesen erbärmlichen Abklatsch einer Waffe beiseite, und dann reden wir darüber, was ihr mit meiner hübschen Gemeinde angestellt habt, oder –“ Das Gammamännchen wartet einen Augenblick, führt den Satz aber nicht weiter aus.
Das Betamännchen wird nervös. „Was denn? Was denn nun? Was ist, wenn ich es nicht mache?“
„Matthäus, Kapitel 5, Vers 39.“
„Was?“
„Und wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt – dann trifft er dich vermutlich auch auf der linken.“
„Aber das Zitat geht doch –“ Das Betamännchen kommt nicht dazu, den Satz zu beenden, bevor die Pranke des Gammas zuschlägt. Zweimal, schnell, und das Betamännchen fällt rücklings in die Kiste.
„Nimm seine Waffe, Sandy“, murmelt das Gammamännchen. „Dann lasst uns gehen.“
„Sie sind ein Pfarrer?“, fragt das Deltamännchen kleinlaut. „Nur ein guter Hirte.“
„Wohin— wohin gehen wir jetzt?“
„Zu Thorhardt.“ Damit öffnet das Gammamännchen die Tür des Steinbaus und tritt hinaus. Gemeinsam treten sie auf die Hauptstraße. Die Hitze der Brände schlägt ihnen entgegen, als sie das umkämpfte Herxheim sehen. Glimmende Geldscheine wirbeln durch die Luft, und ein trockener Wüstenbusch rollt einsam über die Straße.
„Warum rollt da ein Busch? Wir sind in der Pfalz, nicht in der Wüste.“
„Es muss immer einen Busch geben“, sagt das Gammamännchen ruhig und beginnt, die Straße entlangzulaufen. Das Deltamännchen und das Weibchen folgen ihm. Vorbei an dem Haus mit den Steinsäulen und der gesprengten Sparkasse, vorbei am Brunnen. Dort, vor ihnen, versperren mehrere Busse die Straße, aufgereiht wie Barrikaden. Auf den Dächern stehen Männchen und Weibchen mit grimmigen Blicken und grün-gelb karierten Mützen, die lauernd auf die Herannahenden blicken. Dahinter arbeiten weitere Mützen eifrig wie Ameisen. Große Kabel werden verlegt, zusammengeschlossen, verbunden, aus allen Richtungen, sie münden in eine Reihe kleiner Fenster über einer Hofeinfahrt. Elektrizität knistern, es wird geschweißt und gebohrt.
„Sie haben also schon begonnen.“, flüstert das Weibchen und das Deltamännchen sieht ihren erschrockenen Blick.„Was meinst du?“ „Siehst du, was sie da machen? Die Geldautomaten waren nur die Ablenkung. Das dort – das ist Stufe 2.
“Das Deltamännchen sieht die Kabel, die aus allen Richtungen in dieses eine Gebäude führen. „Wo führen die Kabel hin?“
„Natürlich“, das Gammamännchen nickt, „sie mussten das Theater benutzen.“
„Das ist das Theater?“ Bei diesem Bau handelt es sich um einen ganz besonderen Ort innerhalb des Biotops des Homo sapiens. Es ist ein Ort der gemeinsamen fröhlichen Wahnvorstellungen und des gegenseitigen Belügens.
Die ersten Lügen beginnen zumeist damit, dass die Natur des Homo sapiens dergestalt ist, dass in jeder Partnerschaft die zwei Individuen eingehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur eines der beiden Interesse an dieser Form der Wahnvorstellung hat. Für das bemitleidenswerte zweite Exemplar der Partnerschaft, das alle paar Wochen von seinem Partner an diesen Ort gezogen wird, ist und bleibt es der Raum des freundlichen Ausharrens.
Und dann sind da die Exemplare, die fürs Lügen bezahlt werden – und sogar beklatscht: die sogenannten Schauspieler. Während andere Mitglieder der Spezies gelegentlich den Spaß an der Sache der gegenseitigen Wahnvorstellungen erkennen, sehen Schauspieler ihre Teilnahme als heilige Mission, die Menschheit mit großen Gesten, brüllender Stimme und bedeutungsschweren Pausen zu retten. Diese faszinierenden Kreaturen leben in einer Realität, die gänzlich von der Vorstellung durchdrungen ist, dass das Publikum wirklich glaubt, sie seien der dänische Prinz, ein französischer Offizier oder – im schlimmsten Fall – ein sprechender Baum.
Das Deltamännchen wird aus seinen Gedanken gerissen, als ein Bus beiseitegeschoben wird und den Blick freigibt auf Thorhardt, das Alphamännchen. Mit verschränkten Armen steht er da, lächelnd, umgeben von den anderen Mitgliedern seiner Herde.
„Sandy. Du bist wieder da. Sehr gut, wir sind gleich fertig, dann kann Stufe 2 beginnen.“
„Das ist er, oder? Das ist dein–“, flüstert das Deltamännchen, während die drei auf das Theater zulaufen. „Ja“, sagt das Weibchen ernst, „Thorhardt ist mein Schwippschwager.“
„Dein– dann, dann seid ihr zwei nicht?“
„Was?“
„Ihr seid nicht – ihr paart euch nicht?“
„Was – äh, nein. Du bist echt manchmal ein kleiner Freak“, sagt das Weibchen und schüttelt den Kopf. Das Deltamännchen sieht aber ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. „Ja, bin ich vielleicht.“ Nur irgendwie schafft es das Deltamännchen, ebenfalls ein wenig zu grinsen, bei dem Gedanken, dass er nur der Schwippschwager ist. Während die drei dem Alphamännchen durch einen Torbogen in das Innere des Theaters folgen.
„Was kommt jetzt?“, fragt das Deltamännchen zaghaft das Gammamännchen neben sich.
„Ora et labora – jetzt kommt der Teil mit labora.“
Fragen zur Fortsetzung (gestellt am 29.11. im Nachtcafé):
Was ist Stufe 2 ?
— Ein Fest (3 stimmten dafür.)
— Den Schatz von Herxi heben (11 stimmten dafür)
— Machtübernahme (5 stimmten dafür)
— Das Einhorn auf die Bühne bringen (26 stimmten dafür)
Was müssen die Helden tun/opfern um das zu verhindern?
— Die Mütze opfern (2stimmten dafür)
— Einer muss für alle Zeiten als Einhorn auf dem Brunnen stehen (19 stimmten dafür)
— Sandbahn betonieren (5 stimmten dafür)
Wer also hören möchte, wie unser Deltamännchen zusammen mit Sandy und dem Pfarrer Thorhardts Plan umsetzen wird und das Einhorn auf die Bühne bekommt, indem sie die Sandbahn betonieren, der muss am 20.12.2024 um 21 Uhr ins Nachtcafé kommen!
Euer Danilo Fioriti