Die Nachtcafé-Geschichten

Die zweite Nachtcafé-Geschichte (2025)

In 2025 hat eine neue Nacht­ca­fé-Geschich­te, geschrie­ben von Dani­lo Fio­ri­ti mit tat­kräf­ti­ger Unter­stüt­zung vom Publi­kum, begon­nen. Den ers­ten Teil hat er schon im Janu­ar im Nacht­ca­fé vor­ge­stellt. Auf den zwei­ten Teil kön­nen Sie sich am Frei­tag, 28. Febru­ar im nächs­ten Nacht­ca­fé freuen!
Hier zum Nach­le­sen der ers­te Teil der Geschich­te, aus dem Januar-Nachtcafé:
(Die gesam­te ers­te Nacht­ca­fé-Geschich­te fin­den Sie wei­ter unten auf die­ser Seite)

Kapi­tel 1 – It’s Rai­ning Men

Am Mor­gen des 31. Janu­ars 2025 um 07:53 fiel etwas auf den Bal­kon von Gise­la Mertens.

Es war ein eigen­tüm­li­ches Geräusch, das ent­stand, als das Ding auf ihrem Bal­kon lan­de­te. Es war kein Knall, ein Zuhö­rer hät­te es wohl in Erman­ge­lung eines bes­se­ren Wor­tes ein Flat­schen genannt. Das war wohl auch der Grund, war­um zwar der ein­zel­ne blaue Wel­len­sit­tich im Wohn­zim­mer laut gacker­te, als er das Flat­schen gehört hat­te, aber Frau Mer­tens wei­ter in ihre Mor­gen­rou­ti­ne ver­sun­ken war. Gise­la Mer­tens stand näm­lich in die­sem Augen­blick, wie jeden Tag, noch ein­mal vor dem Spie­gel in dem engen Flur neben ihrer Woh­nungs­tür, betrach­te­te sich ein letz­tes Mal, bevor sie zur Arbeit gehen wür­de, und wun­der­te sich – jeden Tag ein wenig.

Sie wuss­te, dass sie 56 Jah­re alt war. Aber wenn sie in den Spie­gel sah, war sie weder alt noch jung. “Ein biss­chen Speck glät­tet die Fal­ten”, hat­te ihre Mut­ter immer gesagt, und viel­leicht war es das. Ihre Haut war glatt und ihr Gesicht rund, aber ihre Augen lagen in tie­fen Fal­ten. Ihr Haar war noch voll, aber von einem unde­fi­nier­ba­ren Maus­blond, das lang­sam zu einem unde­fi­nier­ba­ren Maus­grau hinüberwuchs.

Ihre Klei­dung – so viel Beige.

Sie erin­ner­te sich noch an die­ses eine Foto aus ihrer Kind­heit, tief in den 70ern. Knal­li­ges Oran­ge hat­te sie getra­gen, einen Pul­lun­der mit roten Strei­fen, eine knal­lig blaue Latz­ho­se mit gel­ben Knöp­fen. Sie erin­ner­te sich noch genau an das Bild – auf­ge­nom­men bei einem Foto­shoo­ting in dem klei­nen Stu­dio in ihrem Hei­mat­dorf. Mit ange­spann­ter Hal­tung, aber mit einem brei­ten Grin­sen, saß sie in die­sen bun­ten Klei­dern auf einem häss­li­chen Schaukelpferd.

Wahr­schein­lich war das der bun­tes­te Tag ihres Lebens gewe­sen. Und dann – irgend­wie war die Far­be aus ihren Klei­dern ent­wi­chen. In der Schu­le hat­te es ange­fan­gen. Alles wur­de grell in den 80ern, aber sie woll­te nicht auf­fal­len. In der Klas­se nicht ange­spro­chen wer­den. Nie­man­dem die Mög­lich­keit geben, sie anzugreifen…

Beige.

Natür­lich wuss­te sie, wie sie auf ande­re wirk­te. Und manch­mal – manch­mal, im Urlaub – kauf­te sie sich ein bun­tes Hals­tuch aus Sei­de mit gro­ßen Blu­men­mus­tern. Sie nahm sich vor, es zu Hau­se, auf der Arbeit, zu tra­gen. Die Schub­la­de ihres Nacht­tischs war voll von die­sen Tüchern. Alle noch in den klei­nen Plas­tik­tüt­chen, in die sie die Ver­käu­fe­rin­nen auf den Basa­ren gesteckt hat­ten. Sie hat­te sie nie getra­gen. Sie konn­te die Schub­la­de kaum öff­nen, ohne dass sie her­aus­quol­len und auf den Boden fie­len. Aber Gise­la war geschickt – mit Kraft press­te sie die Tücher zusam­men und drück­te die Schub­la­de fest zu. Das war ja leicht, sie muss­te sie ohne­hin nur ein­mal im Jahr öff­nen, wenn ein wei­te­rer Schal hinzukam.

War­um den auf der Arbeit tra­gen? Auf der Arbeit hät­ten sich die Leu­te nach ihr umge­schaut, wenn sie einen getra­gen hät­te. Sie hät­ten geschmun­zelt: “Was ist denn mit der Mer­tens los?“ Sie wür­den es nicht fra­gen, aber sie wür­den es den­ken. Wenn sie ihren Namen über­haupt wüssten.

Nie­mand wuss­te genau, wie lan­ge Gise­la schon dort arbei­te­te. Jeder wuss­te, dass sie irgend­wie schon immer da war. Und sie selbst muss­te immer wie­der über­le­gen – zehn, fünf­zehn Jah­re? Viel­leicht zwan­zig? Die Kol­le­gen grüß­ten sie höf­lich, aber sie luden sie nie zum Mit­tag­essen ein. Wenn sie Urlaub hat­te, fiel es nie­man­dem auf. Wenn sie krank war, blieb ihr Schreib­tisch unbe­rührt, bis sie wiederkam.

Die Män­ner?

Es hat­te ein paar gege­ben, aber kei­ner war geblie­ben. Män­ner hat­ten sie über­se­hen oder irgend­wann ver­las­sen. Der letz­te war Kurt gewe­sen, ein geschie­de­ner Bus­fah­rer, der ein­mal zu ihr gesagt hat­te: „Gise­la, du bist so unkom­pli­ziert.“ Und dann war er weg. Zu einer Frau, die weni­ger unkom­pli­ziert war – aber aufregender.

Das Zir­pen ihres letz­ten Wel­len­sit­tichs hol­te sie aus ihren Gedan­ken. Auf­ge­regt flat­ter­te er in sei­nem Käfig her­um. Gise­la hat­te ein­mal mehr als die­sen einen Wel­len­sit­tich gehabt, aber in den letz­ten Mona­ten waren alle gestor­ben. Und Gise­la erwar­te­te fast, dass auch Pucki bald wegen Alters­schwä­che able­ben wür­de. Viel­leicht war das wil­de Geflat­ter gera­de ein letz­tes Auf­bäu­men – vor dem unaus­weich­li­chen Tod.

Gise­la schüt­tel­te trau­rig den Kopf und erwar­te­te bereits, dass sie Pucki am Abend als stei­fes klei­nes, blau­es Knäu­el auf dem Boden des Käfigs fin­den wür­de. Zu scha­de war das.

Gise­la hat­te die Klin­ke schon in der Hand und woll­te ihre Woh­nung gera­de ver­las­sen. Da sah sie im Augen­win­kel ein kur­zes Fla­ckern an ihrem Wohn­zim­mer­fens­ter vor­bei­zi­schen. Dann hör­te sie einen Schrei. Einen Schrei unten auf der Stra­ße. Gise­la ging ins Wohn­zim­mer und sah durch ihr Fens­ter hin­un­ter. Aus allen Win­keln kamen Leu­te auf einen Punkt zuge­lau­fen. Die Stra­ße war gebors­ten, ein run­des Loch – spinn­web­ar­tig gin­gen Ris­se über die Stra­ße. Und in der Mit­te – Gise­la schreck­te zurück – ein Körper.

Erschro­cken stol­per­te sie, stieß an ihren Ses­sel und woll­te gera­de wie­der zum Fens­ter, sie hör­te Rufe auf der Stra­ße – aber soweit kam sie nicht. Denn jetzt sah sie durch ihre Bal­kon­tür. Und da lag jemand. Als Ers­tes sah sie einen klei­nen Hin­tern, gefolgt von flei­schi­gen Rücken, mit rot­blon­den Haa­ren an den Sei­ten. Kurts Rücken – fla­cker­te es durch Gise­las Kopf – war auch so behaart gewesen. 

Das Gesicht des Man­nes war von ihr abge­wandt, sie sah nur den fast kah­len Schä­del, der von einem Kranz buschi­ger, rot­blon­der Haa­re umstan­den war, die bereits grau wur­den. So lag die­ser Kerl da, zwi­schen Gise­las Bal­kon­stuhl und den ver­trock­ne­ten Gera­ni­en des Vor­jah­res. Er war nicht tot, da war kein Blut. Einen Moment stand sie so da – dann tipp­te sie mit der Spit­ze ihres Fin­ger­na­gels an die Scheibe.

„Hal­lo? Sind Sie tot?“ Der Wel­len­sit­tich flat­ter­te wei­ter und Gise­la nick­te.
„Ja, ja, ist ja schon gut. Ich schau doch schon nach.“
Eisi­ge Janu­ar­luft ström­te um ihre Füße, als sie die Tür öff­ne­te. Aus allen Ecken der Stadt hör­te sie Rufe und Schreie – Polizeisirenen.nSie tipp­te mit ihrem Fuß an den Ober­schen­kel des Man­nes – kei­ne Reaktion.

Gise­la nick­te und dreh­te sich wie­der um. Sie wür­de ihn da lie­gen las­sen und die Poli­zei rufen. In die­sem Moment hör­te sie ein lei­ses Kna­cken. Sie sah nach unten – ein klei­ner Riss bil­de­te sich am Rand des Bal­kons. Der Riss wur­de brei­ter – es knirsch­te. Es muss­te sein Auf­schlag gewe­sen sein —
„Hal­lo, Sie müss­ten jetzt lang­sam auf­ste­hen“, sag­te sie, wäh­rend das Knir­schen lau­ter wur­de. Sie sah, wie der Bal­kon sich lang­sam senkte.

„Him­mel­herr­gott.“ Sie griff nach dem kal­ten Arm des Man­nes und zog ihn zur Tür. Nur lang­sam – er war schwer. Sie griff nach dem zwei­ten Arm – der Kopf bau­mel­te reg­los zwi­schen den bei­den Armen. Sie stemm­te sich mit den Bei­nen gegen die Bal­kon­tür – sie hat­te den Mann jetzt bis zu den Schul­tern in der Woh­nung, als der Kopf sich plötz­lich hob.

Der Mann blick­te mit blau­en, ver­ständ­nis­lo­sen Augen auf Gisela –

und der Bal­kon senk­te sich kra­chend in die Tiefe.

Ende Kapi­tel 1 

  

Fra­gen:

Eine Grund­emo­ti­on für den Mann nach dem Erwachen– 

Geschockt (1 Per­son stimm­te dafür)
Erstaunt (15 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Ängst­lich (1 Per­son stimm­te dafür)
Lachend (10 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Ver­liebt auf den ers­ten Blick. (25 Per­so­nen stimm­ten dafür)

Woher kommt der Mann?
Von oben (3 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Ande­rer Pla­net (13 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Aus dem Bus (2 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Aus der Fulgzeug­toi­let­te (12 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Aus dem Saar­land (30 Per­so­nen stimm­ten dafür)

Wie muss Gise­la dem Mann helfen?
Mit Mag­gi (17 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Ring­wurst-Weck (8 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Mit einem bei­gen Bade­man­tel (13 Per­so­nen stimm­ten dafür)
Mit ihren bun­ten Tüchern (20)

Wer also hören möch­te wie Gise­la Mer­tens den nack­ten Mann, der auf ihrem Bal­kon gelan­det ist mit ihren bun­ten Tüchern ret­tet, wäh­rend er sich sofort in sie ver­liebt, der muss am 28. Febru­ar um 21 Uhr ins Nacht­ca­fé kommen!

Die erste Nachtcafé-Geschichte aus 2024

Kapitel 1 — Der Bus

1%
553
553
553
Ich weiß bis heu­te nicht, wel­cher Kobold mich dazu zwingt, Zah­len in mei­nem Kopf zu wie­der­ho­len – wie­der und wie­der. Da ist die ste­ti­ge Panik sie zu ver­ges­sen. Ich ver­traue mei­ner Zukunfts­ver­si­on ein­fach nicht. Ich glau­be stets, sie ist ein biss­chen düm­mer als ich. Mein Gegen­warts-Ich kann sich die drei Zif­fer leicht mer­ken aber ob mein Zukunfts-Ich in drei oder vier Minu­ten auch noch klug sein wird? Wer weiß! Bes­ser kein Risi­ko ein­ge­hen. Und die Zahl wiederholen.

Immer noch 1%

553
553
Das war die Num­mer des Bus­ses, den ich in Rülz­heim wür­de neh­men müs­sen. Nicht falsch ein­stei­gen! Kei­ne Chan­ce, dass ich in Rülz­heim noch ein­mal auf mein Han­dy schau­en kön­nen wür­de – seit Minu­ten sah ich 1% auf der Anzei­ge. Jeden Augen­blick wür­de es aus­ge­hen. Dann müss­te ich mich wie ein Höh­len­mensch im Wirr­warr des ÖPNVs nur auf mei­ne Instink­te und auf mein Wis­sen verlassen.

553
Ich wür­de den Bus schon fin­den. Der klei­ne Bild­schirm im Zug zeig­te mir, dass die über­nächs­te Sta­ti­on Rülz­heim sei. Ich stand schon­mal auf. Wit­ze und Memes plopp­ten in mei­nem Kopf auf, von den Deut­schen die immer so früh an der Tür stan­den. Haha – aber mein Han­dy war fast leer und ich muss­te den Bus bekommen!

Bell­heim – noch nicht mei­ne Station.
Die Dop­pel­tür öff­net sich mit einem Zischen. Neue Pas­sa­gie­re ste­hen bereit, sie tre­ten instink­tiv auf die Sei­te um mir Platz zu machen. Aber ich will ja gar nicht aus­stei­gen! Eine Schreck­se­kun­de ste­hen wir so vor­ein­an­der, ohne Augen­kon­takt. Ich hab nie Augen­kon­takt im Zug. Dann klap­pe ich mich auf und pres­se mei­nen Rücken gegen die Ple­xi­glas­schei­be neben der Tür. Die neu­en Pas­sa­gie­re stei­gen ein.
Schnell an mir vor­bei rau­schen: Kin­der mit zu gro­ßen Schul­ran­zen, alte Leu­te – sie rau­schen an mir vor­bei, dann fla­ckert etwas auf, nur kurz. Ein Nacken – hoch­ge­bun­de­ne Haa­re, die unter einer karier­ten Kap­pe ver­schwin­den, ein win­zi­ger Pfef­fer­fleck unter den Baby­haa­ren im Nacken.
Ich blin­zel­te und der Moment war vor­bei. Ich hab nicht hin­ter­her gese­hen, son­dern hoch zur Anzei­ge­ta­fel. Nächs­ter Halt: Rülz­heim. Ich hole mein Han­dy her­vor und bli­cke auf den schwar­zen Bildschirm.

553!
Der Zug fährt eine lan­ge Kur­ve, über einen blin­ken­den Bahn­über­gang, dann quiet­schen die Bremsen.

Rülz­heim – mei­ne Station
Ich stell mich auf. Mein Blick geht durch mein Spie­gel­bild in der Glas­tür hin­durch auf die Wie­se am Rand des Bahn­hofs. In der Sekun­de bevor die Tür sich öff­net, sehe ich ein wei­te­res Spie­gel­bild, das ver­schwom­men neben mei­nes tritt, ich sehe noch die karier­te Kap­pe und grü­ne Augen. Dann wie­der ein Zischen und die Türen glei­ten auf die Sei­te. Unser gemein­sa­mes Bild ist ver­schwun­den. Ich schau nicht zur Seite.

Ner­vös stei­ge ich aus.
553 – ich mache mich bereit auf einem geschäf­ti­gen Bahn­hof unter zahl­lo­sen blin­ken­den Anzei­ge­ta­feln zwi­schen Schul­kin­dern, Rent­nern und Berufs­pend­lern mei­ne Num­mer zu suchen. Eilig wür­de ich zu mei­nem Bus schrei­ten müs­sen. 553. Ich bie­ge um den Zug her­um, und schaue – auf einen ein­sam war­ten­den Bus!
Nein nein, es ist kein Bus! Das Ding, das da war­tet, holt viel­leicht Men­schen für ein Wohn­heim ab oder lie­fert Piz­za aus. Ein Büschen im bes­ten Fall. Ich nähe­re mich.

553 – die Zahl leuch­tet ein­deu­tig in unan­ge­neh­mem Oran­ge auf mich herab.
Kein Zwei­fel mehr, das ist mein Bus. Wie könn­te es auch anders sein, auf dem Park­platz des gro­ßen Bahn­hofs steht nur die­ses Ding.
Die Tür öff­net sich und die mit­tel­al­te Bus­fah­re­rin schaut gelang­weilt aus ihrem Fens­ter wäh­rend ich vor­bei­ge­he. Ich set­ze mich und bin ein biss­chen stolz, dass ich es ganz ohne Han­dy in den Bus geschafft habe.

Ich schaue auf mei­ne Knie, weil ich nichts mit mir anzu­fan­gen weiß, wenn ich nichts zu lesen habe, kei­ne Musik zu hören kei­ne Vide­os zu schau­en sind. Ich spü­re sofort, wie die Ner­vo­si­tät in mir auf­steigt – ich muss ein­fach dasitzen!
Ver­dammt, ich hat­te nicht geschaut, wie weit Herx­heim von Rülz­heim weg ist. Wer weiß wie lang ich jetzt hier ohne Ablen­kung sit­zen muss. Doch dann – ich wuss­te es noch bevor ich es gese­hen habe – jemand hat sich auf den Platz vor mir gesetzt. Einen Moment lang sah ich noch auf mei­ne Knie, dann lang­sam auf, über dem Kra­gen einer blau­en Jacke war da der Nacken. Die Baby­haa­re, die hoch­ge­bun­de­nen Haa­re, die sich unter der karier­ten Kap­pe ver­steck­ten, das Mut­ter­mal am Haaransatz.

Der Bus fuhr los, hin­aus durchs Dorf, rechts wie­der über die Bahn­schie­nen und hin­aus auf eine klei­ne Land­stra­ße. Ein sanf­ter Hügel zur rech­ten, fla­ches Land bis zum Hori­zont auf der lin­ken Sei­te. Rüben – ein rie­si­ger Hau­fen Rüben am Stra­ßen­rand – mei­ne Augen flie­gen zwi­schen dem rech­ten und dem lin­ken Fens­ter hin und her. Also woll­te ich ver­mei­den gera­de­aus zu sehen! Das Mut­ter­mal, ein Dorf – Herx­heim – mein Ziel! Nein oder? Nein, da stand noch mehr – das Schild ist vor­bei. Der Bus ist zwar win­zig, aber er ist immer noch zu breit für die schma­le Dorf­stra­ße mit den gepark­ten Autos. Lang­sam, zäh von Lücke zu Lücke, arbei­tet sich die mit­tel­al­te Bus­fah­re­rin vor­an durch das Dorf, das irgend­wie was mit Herx­heim heißt, aber auch irgend­wie was anderes.

War­um ist mein Han­dy aus? Wie­der Land­stra­ße. Links und rechts jetzt Gewächs­häu­ser aus müden Foli­en, die im lau­en Wind wackeln. Eine Tank­stel­le ohne Dach – ein auf­re­gend aus­se­hen­der ALDI im Hin­ter­grund, dann wie­der eine viel zu enge Dorfstraße.
Wie­der Kampf um jeden Meter, den wir vorankommen.
Die karier­te Kap­pe lehnt jetzt an der Fens­ter­schei­be. Ein Teil von mir malt sich, ohne dass ich es will, aus, wie die grü­nen Augen auf das vor­bei­zie­hen­de Dorf (oder Städt­chen?) schau­en. Nicht wich­tig. Län­ger als ich es gewollt hat­te, sehe ich hin.

Dann hält der Bus.

Kapitel 2 — Der Geldautomat

Scho­ko­küs­se.
Ich sehe eine Kir­che. Das wird das Orts­zen­trum sein. Ich schaue auf mein Han­dy – ich sehe nur den schwar­zen Bild­schirm. Ich weiß nicht, wo ich hin muss. Kir­che, Orts­zen­trum – na, das wird schon pas­sen, wie weit kann es schon sein? Ich sehe im Augen­win­kel, wie die karier­te Müt­ze aufsteht.
Und ich sehe ihre grü­nen Augen, wie­der nur für einen Wim­pern­schlag. Zwei Schrit­te – sie geht an mir vor­bei. Mit einem lei­sen Zischen öff­net sich die Tür, sie steigt aus. Ich ste­he jetzt erst auf.
Eine Kir­che, ein Park­platz – die Frau mit der karier­ten Müt­ze geht ziel­stre­big in Rich­tung der Kir­che, einen klei­nen Hügel hin­auf. Ihren grü­nen Ruck­sack trägt sie in der Hand. Ich fol­ge ihr und hof­fe, dass sie bald abbiegt. Ich kom­me mir lang­sam vor wie ein klei­ner Creep.
Ich gehe extra etwas lang­sa­mer, sie soll ja nicht den­ken, dass ich sie verfolge.
Sie wech­selt die Stra­ßen­sei­te, sie setzt sich in eine Eis­die­le unter Bäu­men neben einem eigen­ar­ti­gen Brun­nen, gegen­über von einem gro­ßen Gebäu­de mit Sand­stein­säu­len. Nicht ein­mal kurz sehe ich hin, sie setzt sich, sie schaut in mei­ne Rich­tung – ich dre­he mich schnell weg.
Ich gehe wei­ter, ich habe ein Ziel.
Schokokussfabrik.
Das Wort schwingt in mei­nem Kopf. Ich male mir bun­te Flie­sen aus und Mes­sing­roh­re, ich sehe Räder, die sich freu­dig dre­hen, und schrill pfei­fen­de Maschi­nen. Ich sehe För­der­bän­der mit Scho­ko­küs­sen durch bun­te Hal­len fah­ren. Ich sehe Ange­stell­te mit rüschen­be­setz­ten Schür­zen und hohen, gestärk­ten Koch­müt­zen an den Scho­ko­küs­sen arbei­ten – all das unter­malt von sanf­ter Musik.
Ich bie­ge um die Ecke und sehe das gro­ße, indus­trie­ro­man­ti­sche Fenster.
Scho­ko­kuss­fa­brik. Ich öff­ne die Tür – gleich wer­de ich ein­tau­chen in eine Welt vol­ler … ein lee­rer Raum. Das ist nur ein schnö­der, lee­rer Raum. Da ste­hen zwei Ver­kaufs­ti­sche mit Kas­sen dar­auf. Kein Mensch. Ich gehe wie­der vor die Tür, ich schaue auf die Öff­nungs­zei­ten, es ist geöff­net. Ich gehe wie­der rein – ein sozi­al kom­pe­ten­te­rer Mensch hät­te jetzt viel­leicht geru­fen, das weiß ich. Hät­te sich irgend­wie bemerk­bar gemacht. Ich ste­he ein­fach nur so herum.
Ich schaue um eine Ecke in ein Lager, ich grinse.
Palet­ten vol­ler Kar­tons. Ich ste­he zwi­schen den unter­schied­li­chen Geschmä­ckern. Aber ich weiß, ich soll die Stan­dard­scho­ko­küs­se mit­neh­men. Immer noch ist kei­ner da. Unschlüs­sig ste­he ich vor der Palet­te. Soll man sie sich ein­fach so neh­men? War­um gibt es hier nicht eine Klin­gel? War­um hängt hier nicht ein Schild, das einem sagt, was man zu tun hat?
Ich ste­he da wie jemand, der gera­de kurz davor ist, eine Straf­tat zu bege­hen. Atme aus und grei­fe nach der Schachtel.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Mein Gehirn feu­ert, wäh­rend ich mich umdre­he. Die Stim­me wirk­te freund­lich, aber – wer weiß. Ein sehr jun­ger Mann sieht mich freund­lich an. Ich bin ent­täuscht. Kei­ne Koch­müt­ze, kei­ne Schür­ze mit Rüschen, kein ein­zi­ger Oom­pa Loom­pa um ihn her­um. Der jun­ge Ver­käu­fer steht da vor sei­nem Büro in einem gewöhn­li­chen T‑Shirt und ich füh­le mich um mei­ne Scho­ko­kuss­fa­brik­fan­ta­sie betro­gen. Ich habe ja nicht erwar­tet, dass er mir mit Zylin­der und Stock gegen­über­steht, aber wenigs­tens eine älte­re Dame mit Lach­fal­ten, das hät­te schon sein dürfen.
„Ein­mal 25 ohne alles?“
Ich nicke und hal­te ihm mei­ne Kar­te entgegen.
„Beep“ – Vor­gang lei­der nicht möglich.
Für Men­schen, die ihr Leben bes­ser im Griff haben als ich, ist das kein Problem.
Vor­gang lei­der nicht möglich.
Sie haben eine Über­sicht über ihre Kon­to­stän­de und ihre Aus­ga­ben. Für mich bricht jedes Mal eine Welt zusam­men: Oh je – ich bin plei­te, irgend­wie bin ich plei­te und habe es gar nicht gewusst. Ver­mut­lich war­tet der Zoll vor mei­nem Haus – oder der Gerichts­voll­zie­her. Ein Leben in bit­te­rer Armut fla­ckert vor mei­nem inne­ren Auge.
„Ach Mist. Das Lese­ge­rät geht schon wie­der nicht. Das Pro­blem haben wir gera­de ständig.“
Hoff­nung. Es lag nicht an mir.
„Kön­nen Sie es bar zahlen?“
„Nein. Gibt es hier eine Bank? Dann bin ich gleich wie­der da.“
Han­dy­los, poten­zi­ell plei­te und immer noch ohne Scho­ko­küs­se, bin ich jetzt wie­der auf dem Weg zu den Sand­stein­säu­len zu der Bank gegen­über dem Brun­nen. Auf dem Weg sehe ich noch einen jun­gen Mann gera­de in einer Volks­bank ver­schwin­den, er fällt mir nur des­we­gen auf, weil er die glei­che karier­te Müt­ze trägt wie die jun­ge Frau. Ich sehe den Brun­nen mit den Ein­hör­nern. Mein Blick geht rüber zu dem schat­ti­gen Eis­ca­fé unter den Bäu­men. Da sitzt sie und – sie schaut zu mir hin­über. Ich sehe noch ein klei­nes Kopf­schüt­teln und fra­ge mich, was das soll. Dann schiebt sich ein Bus zwi­schen uns.
Ich dre­he mich um und öff­ne die Tür zur Spar­kas­se, ich wun­de­re mich noch, da steht ein Kerl mit einer grün-gelb karier­ten Mütze.
Lang­sam ist das unheim­lich – oder viel­leicht nur ein Mode­trend, den ich wie­der nicht mit­be­kom­men habe. Er ist in sein Han­dy ver­tieft und grüßt mich nicht.
Ich bin drin, gehe zum Geld­au­to­ma­ten. Etwas in mei­nem Augen­win­kel for­dert mei­ne Auf­merk­sam­keit. Hin­ter einem der Müll­ei­mer in der Ecke sehe ich grü­nen Stoff. Stoff, den ich ken­ne – der Ruck­sack der Frau mit der karier­ten Kap­pe. Ich muss grin­sen, sie wird sich freu­en, wenn ich ihn ihr schnell rüber­brin­ge ins Eis­ca­fé, viel­leicht sucht sie ihn schon. Ich wun­de­re mich noch, dass er so schwer ist.
„Ist da jemand drin?“ höre ich plötz­lich eine Frau­en­stim­me vor der Bank. „Du soll­test doch achtgeben.“
„Ich glau­be nicht, dass da jemand drin ist. Jetzt ist eh zu spät.“, mur­melt ein Kerl.
Plötz­lich höre ich eine ble­cher­ne Ansa­ge, die durch die Stra­ßen hallt wie von uralten Laut­spre­chern: „3“
Wie­der die Stim­me der Frau: „Du glaubst? Bist du eigent­lich total bescheuert?“
„Mach schon, San­dy!“, der Kerl wird nervös.
„1“
„Bin dabei.“ Die Tür öff­net sich. Die Frau steht da im Ein­gang, ihre grü­nen Augen sind auch unter dem Schild ihrer karier­ten Kap­pe noch zu sehen. San­dy! Sie sieht mich ent­geis­tert an. Dann geht ihr Blick auf die Tasche in mei­ner Hand. Ihre Nasen­spit­ze wird weiß. In ihrer Hand eine klei­ne Fern­be­die­nung mit einem gro­ßen roten Knopf.
„Sag mal, was machst du denn da?“
„0“
„Los, San­dy.“ höre ich die Stim­me des Man­nes von draußen.
Dann ein Schlag, dumpf, von außen. Nein, kein Schlag, ein Don­ner? Nein, es war eine Explo­si­on. Sie kam von unten, auf der ande­ren Sei­te an der Kreu­zung. Die Volks­bank! Der Mann mit der karier­ten Kappe!
San­dy mit der karier­ten Kappe.
San­dy mit dem Aus­lö­ser in der Hand.
Mir wird klar, was ich in der Hand habe. Ich schaue hin­ab, in mei­ner zit­tern­den Hand hal­te ich Sandys …
„San­dy, was ist da los? War­um höre ich nichts?“
„Nur ein tech­ni­sches Problem.“
„Renn weg. Sie kommen.“

 

Kapitel 3 — Das Deltamännchen

„Hören Sie nie­mals auf zu atmen, das ist der ers­te Schritt.“ Ich höre die Stim­me mei­ner The­ra­peu­tin in mei­nem Kopf und ver­su­che, mich an ihren Rat zu hal­ten. San­dy zieht mich am Kra­gen in Rich­tung des Aus­gangs, mei­ne Füße fol­gen, ohne dass ich ihnen Befeh­le gebe.
„Wie­so bist du, Hohl­kopf, in die Bank gegan­gen?“, meckert San­dy, wäh­rend wir zwi­schen den Sand­stein­säu­len hin­durch­ren­nen. Die Stra­ße füllt sich bereits mit Schaulustigen.
„Also, erst dach­te ich, dass der Gerichts­voll­zie­her vor mei­ner Tür steht, aber dann … mein Han­dy ist aus und … und es gab kei­ne Oom­pa-Loom­pas in der Schaumkussfabrik!“
„Was?“ San­dy schaut mich ver­wirrt an und drückt mich dann gegen eine der Säu­len. „Vor­sicht.“ Ein grün-gelb karier­ter Bus bret­tert an uns vor­bei. Aus den Laut­spre­chern tönen ble­cher­ne Paro­len, die ich nicht ver­ste­he. Blut rauscht in mei­nen Ohren, mir wird schwin­de­lig. Ich füh­le noch San­dys Hand, aber ich sehe sie kaum noch hin­ter einem schwar­zen Schleier.
„Und was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht?“, dröhnt die Stim­me mei­ner The­ra­peu­tin streng in mei­nem Kopf. San­dy drückt mich nach unten, und wir ver­ste­cken uns hin­ter einem Gebüsch. Ich zit­te­re. „Was machen wir, wenn Atmen nicht mehr reicht? Wenn die Anfäl­le zu schlimm werden?“
Ich lie­ge zit­ternd auf dem Boden und höre Men­schen auf der Haupt­stra­ße schrei­en. San­dy schüt­telt mich.
„Wir zoo­men raus.“
„Was redest’n du da?“, San­dys Stim­me scheint weit weg zu sein.
„Ganz rich­tig“, höre ich zufrie­den die Stim­me der The­ra­peu­tin. „Wir zoo­men raus. Wir ver­schaf­fen uns Über­sicht, und aus der Über­sicht her­aus ist alles gar nicht so schlimm. Wir sind am Ende alle nur Affen, nur Tiere.“
Ich zoo­me raus, das kann ich – ich bin nicht mehr im schwar­zen Loch. Ich sehe mich, ich lie­ge zit­ternd auf dem Boden, San­dy neben mir, sie hält mich. Cha­os auf der Stra­ße. Wei­te­re grün karier­te Müt­zen strö­men aus dem Bus. San­dy ver­sucht, mich weg­zu­zie­hen, aber ich reagie­re nicht, ich bin nutzlos.
„Wir sind am Ende alle Affen, nur Tie­re“, beru­hi­ge ich mich. Ich ent­span­ne mich. Wir sind nur Tie­re, so ist es, so muss ich es sehen, so geht es nur, Über­sicht zu bewahren:
Das Männ­chen, das eben noch zit­ternd auf dem Boden lag, rap­pelt sich auf. Das Weib­chen mit der karier­ten Müt­ze zieht unser Männ­chen nach oben. An sei­nem unter­wür­fi­gen Ver­hal­ten dem Weib­chen gegen­über sehen wir leicht, dass es sich um ein Beta­männ­chen handelt.
„Ich bin kein Beta!“, ruft das Männ­chen in die Luft, wäh­rend es von dem Weib­chen über die Stra­ße gezo­gen wird, wie ein ver­weich­lich­tes Deltamännchen.
„Was bist du nicht?“, brüllt das Weibchen.
„Mann, das ist ja noch viel schlimmer.“
„Was denn?“, schreit das Weib­chen dem ver­weich­lich­ten Del­ta­männ­chen zu.
„Die Tier­do­ku in mei­nem Kopf sagt, ich wäre ein Del­ta – nicht so wich­tig.“ Das Männ­chen ver­sucht, sei­ne Paa­rungs­fä­hig­keit dem Weib­chen gegen­über zu bewei­sen, indem es so tut, als wür­de gera­de kei­ne Tier­do­ku­men­ta­ti­on in sei­nem Kopf ablau­fen, die alles doku­men­tiert, was er sagt.
„Ich will mich gar nicht paa­ren“, schreit das Männ­chen verzweifelt.
„Dann sind wir ja einer Mei­nung. Komm, hier ver­ste­cken wir uns“, erwi­dert das Weib­chen, und gemein­sam ren­nen sie auf einen beson­de­ren Bau des Habi­tats zu. Der Homo sapi­ens ver­bringt oft Jah­re und rie­si­ge Men­gen an Res­sour­cen, um sol­che Bau­ten zu errich­ten, nur um dann regel­mä­ßig dar­in zu sit­zen und gedul­dig in einer Grup­pe zu schwei­gen oder mono­to­ne Lau­te von sich zu geben. Von außen wir­ken sie wie präch­ti­ge Stein­höh­len, in denen man Glanz und Protz erwar­tet, doch drin­nen fin­det man oft har­te Holz­bän­ke – eine merk­wür­di­ge Wahl für ein Tier, das beque­me­re Sitz­ge­le­gen­hei­ten erfun­den hat.
„Du willst dich in der Kir­che verstecken?“
„Ja. Sei jetzt ruhig.“
„Wo ist San­dy? War­um hat es hier nicht geklappt?“, ruft ein beein­dru­cken­des Männ­chen auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te neben dem Bus. Sei­ne Grö­ße, der ange­neh­me tie­fe Bari­ton sei­ner Stim­me und die brei­ten Schul­tern machen ihn trotz einer grün-gelb karier­ten Müt­ze zum natür­li­chen Alpha­männ­chen des klei­nen Rudels, das sich gera­de um ihn her­um bildet.
„Sie ist total durch­ge­dreht. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.“
Das Alpha­männ­chen ver­engt sei­ne Augen und kreuzt die Arme, um Über­le­gen­heit und Nach­den­ken zu zeigen.
„Sucht sie“, befiehlt er sei­ner Grup­pe, indem er mit sei­nem aus­ge­präg­ten Kinn nickt, und sie strö­men aus­ein­an­der, um eine Spur aufzunehmen.
Das Beta­männ­chen und das Weib­chen haben den Bau erreicht. Das Weib­chen öff­net die Tür.
„Mann, du hast mir das alles echt ver­saut“, sagt das Weib­chen und wirft sich auf eine der unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten in die­sem Raum des gemein­sa­men Schwei­gens. Es atmet lan­ge aus, sei­ne Kör­per­hal­tung deu­tet auf Müdig­keit hin.
„Es tut mir leid“, stam­melt das Beta­männ­chen, das immer noch am Ein­gang steht, unfä­hig zu ent­schei­den, ob es sich zu dem Weib­chen set­zen soll oder auf eine der ande­ren Sitz­ge­le­gen­hei­ten, die immer noch zu Hun­der­ten in die­sem Raum ste­hen – als Erin­ne­rung dar­an, dass es ein­mal Zei­ten gab, in denen sich mehr Indi­vi­du­en der Gemein­schaft zum gemein­sa­men Mur­meln und Schwei­gen tra­fen. „Was … was habe ich dir denn versaut?“
„Naja, heu­te ist der Tag, der Tag, an dem sich alles ändern soll­te.“ Das Weib­chen schaut mit­lei­dig auf das Del­ta­männ­chen. „Was ist denn ein Deltamännchen?“
„Naja, Alphas sind die Anfüh­rer, Betas sind die Mit­läu­fer, Gam­mas sind so für sich, und dann gibt es noch Del­tas, die wer­den gejagt.“
Das Weib­chen schaut das Del­ta­männ­chen einen Moment an. „Und du glaubst, du bist ein–“ Sie stockt und schaut zur Tür. „Ver­steck dich.“ Damit wirft sie sich zwi­schen die unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten, und das Beta­männ­chen macht einen Sprung zu ihr. Die Tür des Baus öff­net sich, und ein drah­ti­ges Beta­männ­chen schleicht hin­ein. Sei­ne schma­len Augen bli­cken in den gro­ßen Raum. Sei­ne Lef­zen sind nach oben gezo­gen, sei­ne Kör­per­hal­tung signa­li­siert Angriffslust.
„Oh, San­dy!“, ruft er, und es hallt von den Wän­den des Baus wider. „Sag mal, San­dy, bist du hier?“ Lau­ernd streift der Jäger durch den Raum. Sei­ne Beu­te, das Del­ta­männ­chen und das Weib­chen, schie­ben sich geduckt über den Stein­bo­den durch die Reihen.
„Hast du kal­te Füße bekom­men, San­dy? Willst jetzt wohl aus­stei­gen, was?“ Der Jäger nutzt hier sein Wis­sen über sei­ne Beu­te, um die­se dazu zu bewe­gen, ihre Deckung zu ver­las­sen. Er ist jetzt an einem Ende des Baus, dort, wo beim gemein­sa­men Schwei­gen immer ein ganz beson­de­res Exem­plar der Gat­tung steht und lau­ter mur­melt als alle anderen.
„Er ist beim Altar. Was machen wir?“, flüs­tert das Deltamännchen.
„Schnell, hier rein.“ Das Weib­chen zieht das Del­ta­männ­chen hin­ter sich her, öff­net eine Tür und schiebt es in einen brau­nen Kas­ten. Es ist ein ganz beson­de­rer brau­ner Kas­ten im Habi­tat des Homo sapi­ens, ein Kas­ten für das Flüs­tern für Fort­ge­schrit­te­ne. Er sieht aus, als hät­te man eine win­zi­ge Tele­fon­zel­le aus dem 19. Jahr­hun­dert in der Ecke ver­ges­sen – er ist abge­dun­kelt und so schmal, als wol­le man den Besu­cher gleich dar­auf vor­be­rei­ten, dass hier nichts Ange­neh­mes pas­sie­ren wird. Den­noch tritt der gemei­ne Homo sapi­ens bereit­wil­lig ein, als wäre es ein Pri­vi­leg, sich in eine Holz­kam­mer zu quet­schen, die etwa so viel Bein­frei­heit bie­tet wie ein Flug in der Holzklasse.
Das Del­ta­männ­chen drückt sich in eine Ecke des Kas­tens und ver­sucht, kei­nen Kör­per­kon­takt zum Weib­chen auf­zu­bau­en. Das Weib­chen schaut durch das klei­ne Fens­ter des Flüs­ter­kas­tens hinaus.
Das Del­ta­männ­chen lehnt sich an das klei­ne Bänk­chen der Flüsterkammer.
„Er geht zur Tür. War­te … war­te … er geht wie­der“, flüs­tert das Weib­chen und zeigt Anzei­chen von Ent­span­nung. Das Del­ta­männ­chen setzt sich auf das klei­ne Bänk­chen und – es knarzt. Ver­dutzt schaut das Del­ta­männ­chen zum Weib­chen. Dann hören sie den Jäger: „Wusst ich’s doch, dass du da bist!“, schreit der Jäger und springt schnell über die unbe­que­men Sitz­ge­le­gen­hei­ten in Rich­tung der Flüsterkammer.
„Mach dich bereit!“, schreit das Weib­chen, stößt die Tür der Flüs­ter­kam­mer auf und das Beta­männ­chen sieht die Frat­ze des Jägers auf sich zustürmen.

 

Kapitel 4 — Das Theater

Das gemei­ne Opos­sum ist ein Meis­ter der Täu­schung. Bei Bedro­hung stellt es sich toter als die Kar­rie­re eines Rea­li­ty-TV-Stars nach Staf­fel zwei. Sei­ne Stra­te­gie? Ein­fach flach hin­le­gen, den Mund leicht öff­nen und dar­auf hof­fen, dass der Fress­feind den Appe­tit ver­liert. Eine genia­le Tak­tik, die auf Instinkt, Schau­spiel­kunst und einer Pri­se Faul­heit basiert. Tot­stel­len, die Welt aus­blen­den – das ist der ulti­ma­ti­ve Akt der Unter­wer­fung eines schein­bar rück­grat­lo­sen Wesens.
Unser Del­ta­männ­chen hat in die­ser gro­ßen Stress­si­tua­ti­on eine ganz ähn­li­che Stra­te­gie. Wäh­rend der Jäger auf ihn zustürmt, wirft es sich auf den Boden der Kis­te und hört den hage­ren Kör­per des Beta­männ­chens gegen die Wän­de der Box krachen.
„Ver­damm­te Schei­ße, was soll das denn?“, schreit das Weib­chen San­dy das Beta­männ­chen an, das sich gera­de auf­rap­pelt. „Du bist mitt­ler­wei­le genau­so irre wie Thorhardt!“
„Wie wer?“, stam­melt das Del­ta­männ­chen. „Thor­hardt! Du hast ihn vor­hin gese­hen. Er ist ihr – er ist unser Anführer.“
„Thor­hardt…“ Der Name hallt in den Gedan­ken des Del­ta­männ­chens wider. Der männ­lichs­te Name, den man sich nur vor­stel­len kann. Klingt wie jemand, der Holz mit blo­ßen Hän­den spal­tet, Bier aus einem Fels­bro­cken zapft und sei­ne Steu­er­erklä­rung auf einem Amboss schreibt. Thorhardt!
„Oh, San­dy“, das Beta­männ­chen lau­ert in den Tie­fen der Kis­te und schaut mit gebeug­tem Kopf hin­aus zum Weib­chen, sei­ne Augen fun­keln, „tu nicht so, als ob du bes­ser bist. Das hier war doch dein Vorschlag.“
„Das war dein Vor­schlag?“, fragt das Del­ta­männ­chen ent­täuscht das Weib­chen. „Ja, viel­leicht. Ich hab ja nicht wis­sen kön­nen… Ich wuss­te nicht, dass Thor­hardt so weit gehen würde.“
„Du und Thor­hardt, seid ihr…“, das schwä­cheln­de Del­ta­männ­chen kann den Satz nicht been­den. Zu sehr hat es sich schon in die Träu­me einer gemein­sa­men Paa­rung mit dem Weib­chen gestei­gert, als dass die Nach­richt von einem sehr viel begeh­rens­wer­te­ren männ­li­chen Exem­plar ihn nicht schmerz­haft tref­fen könnte.
„Ja. Ja, sind wir. Thor­hardt und ich.“ „Genug jetzt mit die­sem Gela­ber“, keift das Beta­männ­chen in der Dun­kel­heit der Kis­te. „Ihr kommt jetzt mit.“ Es greift in sei­ne Tasche und zieht etwas her­vor, das den Homo sapi­ens von allen ande­ren Spe­zi­es unter­schei­det – sein Ein­falls­reich­tum und der ste­ti­ge Wunsch, neue Din­ge zu ent­wi­ckeln, um das Leben sei­ner Art­ge­nos­sen zu ver­kür­zen. Hun­dert­tau­send Jah­re Evo­lu­ti­on haben zu gegen­über­lie­gen­den Dau­men und beweg­li­chen Zei­ge­fin­gern geführt. Der gemei­ne Homo-sapi­ens-Mann hat die Form sei­ner vor­de­ren Extre­mi­tä­ten genau betrach­tet und eine Waf­fe ent­wi­ckelt, die nicht nur per­fekt in sei­ne Hän­de passt, son­dern auch die beque­me Mög­lich­keit bie­tet, Gewalt zu maxi­mie­ren und dabei die eige­ne Fit­ness mini­mal zu bean­spru­chen. Das Kon­zept? Eine Minia­tur-Kano­ne, die das Prin­zip „Puff und Peng“ in eine Art trag­ba­re Phi­lo­so­phie verwandelt.
„Shit, er hat ’ne Pis­to­le“, stam­melt das Deltamännchen.
„Rich­tig gese­hen! Und ihr zwei kommt jetzt mit. Thor­hardt hat sei­ne Basis auf­ge­schla­gen und berei­tet gera­de Stu­fe zwei vor.“
Das Weib­chen und das Del­ta­männ­chen heben die Arme – ein Zei­chen ihrer Unter­wer­fung unter die Macht des Puff-und-Peng-Stabs. „Sag doch ein­fach Pis­to­le“, mur­melt das Deltamännchen.
„Was?“, fragt das Beta­männ­chen und macht einen schnel­len Schritt auf ihn zu.
„Lass ihn, er hat ’ne Tier­do­ku im Kopf“, ver­sucht das Weib­chen ihn zu beru­hi­gen. „Hä?“ „Frag ein­fach nicht.“
„Na egal, ihr kommt jetzt mit – und kein Rum­ge­ham­pel mehr!“ „Nein, das glaub ich nicht“, erwi­dert das Weib­chen. „Was denkst du, war­um ich hier­her geflo­hen bin? Ich bin nicht die, die Angst haben muss. „Was ist das jetzt für ein Spiel? Wo sind wir hier?“

„Ihr seid in mei­ner Kir­che“, dröhnt plötz­lich eine tie­fe, vol­le Stim­me durch die wei­te Halle.
Das Weib­chen, das Del­ta­männ­chen und das hage­re Männ­chen mit dem Puff-und-Peng-Stab dre­hen sich um – und da steht er. Die impo­san­tes­te Erschei­nung seit der Tei­lung des Roten Mee­res. Eine leben­di­ge Legen­de, ein wan­deln­des Kreuz aus tes­to­ste­ron­ge­la­de­ner Prä­senz und uner­schüt­ter­li­chem Glauben.
Jeder Schritt hallt durch das hei­li­ge Gemäu­er, als wür­de er die Archi­tek­tur selbst dar­an erin­nern, wer hier das Sagen hat. Der schwar­ze Talar sitzt per­fekt – kei­ne Fal­ten, kein Makel, als hät­te ihn Gott selbst gebü­gelt. Die Sto­la hängt um sei­nen brei­ten Nacken wie ein Krie­ger­um­hang, und das Kol­lar schim­mert im Licht der Ker­zen, als wäre es aus rei­nem Stahl gefer­tigt. Ein Männ­chen wie ein Wolf: ein­sam, mäch­tig, angst­ein­flö­ßend. Das Gammamännchen.
„Was bis­ten du en Pfarrer?“
„Du hast jetzt zwei Mög­lich­kei­ten, mein Sohn. Du bereust dei­ne Sün­den, legst die­sen erbärm­li­chen Abklatsch einer Waf­fe bei­sei­te, und dann reden wir dar­über, was ihr mit mei­ner hüb­schen Gemein­de ange­stellt habt, oder –“ Das Gam­ma­männ­chen war­tet einen Augen­blick, führt den Satz aber nicht wei­ter aus.
Das Beta­männ­chen wird ner­vös. „Was denn? Was denn nun? Was ist, wenn ich es nicht mache?“
„Mat­thä­us, Kapi­tel 5, Vers 39.“
„Was?“
„Und wenn dich jemand auf dei­ne rech­te Wan­ge schlägt – dann trifft er dich ver­mut­lich auch auf der linken.“
„Aber das Zitat geht doch –“ Das Beta­männ­chen kommt nicht dazu, den Satz zu been­den, bevor die Pran­ke des Gam­mas zuschlägt. Zwei­mal, schnell, und das Beta­männ­chen fällt rück­lings in die Kiste.
„Nimm sei­ne Waf­fe, San­dy“, mur­melt das Gam­ma­männ­chen. „Dann lasst uns gehen.“
„Sie sind ein Pfar­rer?“, fragt das Del­ta­männ­chen klein­laut. „Nur ein guter Hirte.“
„Wohin— wohin gehen wir jetzt?“
„Zu Thor­hardt.“ Damit öff­net das Gam­ma­männ­chen die Tür des Stein­baus und tritt hin­aus. Gemein­sam tre­ten sie auf die Haupt­stra­ße. Die Hit­ze der Brän­de schlägt ihnen ent­ge­gen, als sie das umkämpf­te Herx­heim sehen. Glim­men­de Geld­schei­ne wir­beln durch die Luft, und ein tro­cke­ner Wüs­ten­busch rollt ein­sam über die Straße.
„War­um rollt da ein Busch? Wir sind in der Pfalz, nicht in der Wüste.“
„Es muss immer einen Busch geben“, sagt das Gam­ma­männ­chen ruhig und beginnt, die Stra­ße ent­lang­zu­lau­fen. Das Del­ta­männ­chen und das Weib­chen fol­gen ihm. Vor­bei an dem Haus mit den Stein­säu­len und der gespreng­ten Spar­kas­se, vor­bei am Brun­nen. Dort, vor ihnen, ver­sper­ren meh­re­re Bus­se die Stra­ße, auf­ge­reiht wie Bar­ri­ka­den. Auf den Dächern ste­hen Männ­chen und Weib­chen mit grim­mi­gen Bli­cken und grün-gelb karier­ten Müt­zen, die lau­ernd auf die Her­an­na­hen­den bli­cken. Dahin­ter arbei­ten wei­te­re Müt­zen eif­rig wie Amei­sen. Gro­ße Kabel wer­den ver­legt, zusam­men­ge­schlos­sen, ver­bun­den, aus allen Rich­tun­gen, sie mün­den in eine Rei­he klei­ner Fens­ter über einer Hof­ein­fahrt. Elek­tri­zi­tät knis­tern, es wird geschweißt und gebohrt.
„Sie haben also schon begon­nen.“, flüs­tert das Weib­chen und das Del­ta­männ­chen sieht ihren erschro­cke­nen Blick.„Was meinst du?“ „Siehst du, was sie da machen? Die Geld­au­to­ma­ten waren nur die Ablen­kung. Das dort – das ist Stu­fe 2.
“Das Del­ta­männ­chen sieht die Kabel, die aus allen Rich­tun­gen in die­ses eine Gebäu­de füh­ren. „Wo füh­ren die Kabel hin?“
„Natür­lich“, das Gam­ma­männ­chen nickt, „sie muss­ten das Thea­ter benutzen.“
„Das ist das Thea­ter?“ Bei die­sem Bau han­delt es sich um einen ganz beson­de­ren Ort inner­halb des Bio­tops des Homo sapi­ens. Es ist ein Ort der gemein­sa­men fröh­li­chen Wahn­vor­stel­lun­gen und des gegen­sei­ti­gen Belügens.
Die ers­ten Lügen begin­nen zumeist damit, dass die Natur des Homo sapi­ens der­ge­stalt ist, dass in jeder Part­ner­schaft die zwei Indi­vi­du­en ein­ge­hen mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit nur eines der bei­den Inter­es­se an die­ser Form der Wahn­vor­stel­lung hat. Für das bemit­lei­dens­wer­te zwei­te Exem­plar der Part­ner­schaft, das alle paar Wochen von sei­nem Part­ner an die­sen Ort gezo­gen wird, ist und bleibt es der Raum des freund­li­chen Ausharrens.
Und dann sind da die Exem­pla­re, die fürs Lügen bezahlt wer­den – und sogar beklatscht: die soge­nann­ten Schau­spie­ler. Wäh­rend ande­re Mit­glie­der der Spe­zi­es gele­gent­lich den Spaß an der Sache der gegen­sei­ti­gen Wahn­vor­stel­lun­gen erken­nen, sehen Schau­spie­ler ihre Teil­nah­me als hei­li­ge Mis­si­on, die Mensch­heit mit gro­ßen Ges­ten, brül­len­der Stim­me und bedeu­tungs­schwe­ren Pau­sen zu ret­ten. Die­se fas­zi­nie­ren­den Krea­tu­ren leben in einer Rea­li­tät, die gänz­lich von der Vor­stel­lung durch­drun­gen ist, dass das Publi­kum wirk­lich glaubt, sie sei­en der däni­sche Prinz, ein fran­zö­si­scher Offi­zier oder – im schlimms­ten Fall – ein spre­chen­der Baum.
Das Del­ta­männ­chen wird aus sei­nen Gedan­ken geris­sen, als ein Bus bei­sei­te­ge­scho­ben wird und den Blick frei­gibt auf Thor­hardt, das Alpha­männ­chen. Mit ver­schränk­ten Armen steht er da, lächelnd, umge­ben von den ande­ren Mit­glie­dern sei­ner Herde.
„San­dy. Du bist wie­der da. Sehr gut, wir sind gleich fer­tig, dann kann Stu­fe 2 beginnen.“
„Das ist er, oder? Das ist dein–“, flüs­tert das Del­ta­männ­chen, wäh­rend die drei auf das Thea­ter zulau­fen. „Ja“, sagt das Weib­chen ernst, „Thor­hardt ist mein Schwippschwager.“
„Dein– dann, dann seid ihr zwei nicht?“
„Was?“
„Ihr seid nicht – ihr paart euch nicht?“
„Was – äh, nein. Du bist echt manch­mal ein klei­ner Freak“, sagt das Weib­chen und schüt­telt den Kopf. Das Del­ta­männ­chen sieht aber ein klei­nes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Ja, bin ich viel­leicht.“ Nur irgend­wie schafft es das Del­ta­männ­chen, eben­falls ein wenig zu grin­sen, bei dem Gedan­ken, dass er nur der Schwipp­schwa­ger ist. Wäh­rend die drei dem Alpha­männ­chen durch einen Tor­bo­gen in das Inne­re des Thea­ters folgen.
„Was kommt jetzt?“, fragt das Del­ta­männ­chen zag­haft das Gam­ma­männ­chen neben sich.
„Ora et labo­ra – jetzt kommt der Teil mit labo­ra.“

Kapitel 5 — Das Einhorn

„San­dy,“ Thor­hardt schmun­zel­te breit, ganz so, als hät­te er gera­de einen beson­ders cle­ve­ren Gedan­ken, „ich habe immer geahnt, dass du uns ver­ra­ten wür­dest.“ Sei­ne Augen ver­eng­ten sich. „Hoch­wür­den,“ flüs­ter­te er fast ehr­fürch­tig. Dann fiel sein Blick auf das Del­ta­männ­chen. „Und du bist also der Unruhestifter.“
„Was bin ich?“ stam­mel­te das Deltamännchen.
„Du hast mei­ne San­dy vom rech­ten Weg abge­bracht. Dabei ste­hen wir so kurz davor, San­dy. Die Ein­hör­ner sind fast so weit.“
„Was ist so weit?“
„Das willst du nicht wirk­lich durch­zie­hen, Thor­hardt, oder? Die Ein­hör­ner könn­ten gefähr­lich wer­den. Du weißt nicht—“
„Du hast unse­re Bewe­gung nie ver­stan­den. Es geht dar­um, den Men­schen ihre Wür­de zurück­zu­ge­ben! Kommt schon, der Viri­li­täts­re­so­na­tor ist bereit.“ Mit die­ser epo­cha­len Ansa­ge mach­te er auf dem Absatz kehrt und stol­zier­te in den Hof hin­aus. „Folgt mir in den Theatersaal!“
Doch das Del­ta­männ­chen blieb unter einem klei­nen roten Schild ste­hen und starr­te dar­auf. „Chaw­we­rusch Thea­ter­saal. Aber ich glau­be, hier ist der Eingang.“
„Was?“ Thor­hardt blieb ste­hen und dreh­te sich lang­sam um.
„Naja,“ begann das Del­ta­männ­chen zag­haft, „ich glau­be, das hier ist der Ein­gang zum Saal. Steht ja auf dem Schild.“
„Ja, aber ich benut­ze eben den Ein­gang durch den Hof. Den haben wir schon immer benutzt.“
„Ja, aber irgend­je­mand hat sich doch bestimmt etwas dabei gedacht, dass das hier der Haupt­ein­gang ist,“ ent­geg­ne­te das Del­ta­männ­chen, fast schon schulmeisterlich.
„Da hat er recht Boss,“ mur­mel­te ein Anhän­ger aus der zwei­ten Rei­he, der bis dahin klug geschwie­gen hatte.
„Was?!“ Thor­hardt fun­kel­te ihn an.
„Naja, frü­her bin ich auch immer die Trep­pe im Hof hoch, aber—“
„Ja, aber viel­leicht hat sich das jetzt geän­dert, Boss,“ misch­te sich ein ande­rer ein. „Viel­leicht gibt’s den neu­en Weg wegen der Sicherheit.“
Thor­hardt schnauf­te und warf die Hän­de in die Luft. „Sicher­heit! Ver­weich­li­chung nen­ne ich das!“ Er stapf­te Rich­tung Haupt­ein­gang, sei­ne Schrit­te schwer vor thea­tra­li­scher Empö­rung. „Das ist genau das Pro­blem mit euch Welt­ver­bes­se­rern! Alles muss immer sicher sein. Sicher­heit, Sicher­heit, Sicher­heit! Als ob das Leben kei­ne Risi­ken mehr haben dürfte!“

Sei­ne Stim­me bekam plötz­lich einen leicht zitt­ri­gen Unter­ton, als sich sei­ne Wor­te zu einem Cre­scen­do stei­ger­ten. Ein Gedan­ke flat­ter­te durch das Hirn des Del­ta­männ­chens: Wie erbärm­lich ist die­ser Typ? Als sie den Thea­ter­saal betra­ten, fie­len dem Del­ta­männ­chen die Kabel auf, die durch die Fens­ter zu gro­ßen Maschi­nen lie­fen, die über­all im Saal surr­ten und blinkten.
„Sicher­heit. Habt ihr gehört, dass sie jetzt die Sand­bahn beto­nie­ren wol­len?“ Thor­hardts Stim­me über­schlug sich fast vor Abscheu. „Ja, unse­re hei­li­ge Bahn! Nur weil da Men­schen ster­ben, machen sie dar­aus eine stink­nor­ma­le Renn­bahn! Das ist doch kein Fort­schritt – das ist eine Belei­di­gung! Eine Belei­di­gung für unser Erbe. Das ist nicht mehr mei­ne Bahn!“
„Aber… wenn doch Men­schen ster­ben?“ warf San­dy ein.
„Das ist der Preis der Frei­heit!“ don­ner­te Thor­hardt, und sei­ne Brust schwoll vor Stolz. „Wo wären wir, wenn wir immer nur auf die Schwächs­ten Rück­sicht neh­men wür­den?“ Die ande­ren grün-gelb-karier­ten Müt­zen ver­sam­mel­ten sich jetzt um Thor­hardt in der Mit­te des Raums, hin­ter einer Maschi­ne, die das Del­ta­männ­chen für den „Viri­li­täts­re­so­na­tor“ hielt.

„Hört mich an, Brü­der! Herx­heim war einst eine Bas­ti­on der Stär­ke, ein Dorf, in dem Män­ner noch Män­ner waren – mutig, uner­schüt­ter­lich und vor allem: bron­zen in ihrer See­le! Doch was sind wir heu­te? Eine Ansamm­lung von Zweif­lern, die sich vor Gefüh­len ver­ste­cken und Kom­pro­mis­se ein­ge­hen! Aber nicht län­ger! Gemein­sam wer­den wir heu­te ein neu­es Zeit­al­ter begin­nen, das Zeit­al­ter der Ein­hör­ner. Die Men­schen wer­den wie­der Angst vor uns bekom­men! Unse­re Bron­ze­ein­hör­ner, die­se majes­tä­ti­schen Krea­tu­ren, sind das Sym­bol unse­rer wah­ren Natur! Sie ste­hen für alles, was wir ver­lo­ren haben: Stär­ke, Ehre und die unnach­gie­bi­ge Kraft der Männlichkeit!“
Das Del­ta­männ­chen prus­te­te auf. „Ein­hör­ner? Die Bron­ze­ein­hör­ner sind das Sym­bol eurer Männlichkeit?“
„Ja, sind sie!“, schreit Thor­hardt. „Wesen, denen die Waf­fe direkt aus der Stirn wächst! Und heu­te Nacht, hier im Her­zen von Herx­heim, im Tanz­saal, wo die Ener­gie von Gene­ra­tio­nen wil­der Män­ner bro­delt, wer­de ich sie zum Leben erwe­cken!“ Er schreit laut auf und drückt mit bei­den Hän­den den Schal­ter des „Viri­li­täts­re­so­na­tors“. Die Maschi­ne surrt auf, Fun­ken schla­gen durch die Luft. Die Wän­de begin­nen zu wackeln.
„Wenn die Ein­hör­ner erwa­chen, wer­den sie die Män­ner von Herx­heim inspi­rie­ren, uns zei­gen, wie man wie­der stolz, mutig und unbe­zwing­bar ist! Kein Schwan­ken, kein Weich­wer­den – nur rohe, unauf­halt­sa­me Männ­lich­keit, die das Dorf aus sei­ner Ver­weich­li­chung reißt! Die Ein­hör­ner wer­den nicht nur leben – sie wer­den Herx­heim retten!“
„Thor­hardt, das ist zu viel, du musst auf­hö­ren!“, ruft San­dy über das Rau­schen der Maschi­ne. In der Fer­ne hört das Del­ta­männ­chen ein tie­fes, bron­ze­nes Wie­hern. Aber es klingt nicht wie das eines klei­nen Pfer­des – es ist das Wie­hern eines Titans. „Sie wer­den zu groß.“
„Hört ihr sie?! Sie sind da! Die Ein­hör­ner, sie leben! Schnell, folgt mir!“

Thor­hardt rennt auf­ge­regt wie ein klei­nes Kind aus dem Saal, die Trep­pe hin­un­ter und auf die Stra­ße. Das Del­ta­männ­chen wird von einem der Anhän­ger eben­falls mit­ge­zo­gen, bleibt jedoch abrupt ste­hen, wie ange­wur­zelt. Vor ihm: zwei haus­ho­he Bron­ze­ein­hör­ner, die aus­se­hen, als hät­ten sie den loka­len Fit­ness­club zer­stört und ihn anschlie­ßend gefres­sen. Ihre Hufe, groß wie Trak­tor­rei­fen, rei­ßen Ris­se in den Asphalt, wäh­rend aus ihren glü­hen­den Nüs­tern damp­fen­der Atem auf­steigt. Sie rei­ßen sich gera­de die Kabel, mit denen der „Viri­li­täts­re­so­na­tor“ Ener­gie in sie gepumpt hat, von ihren Rücken.
Bron­co und Bron­co­li­na – wie Thor­hardt sie wohl nen­nen wür­de – fixie­ren ihn mit leuch­ten­den, gift­grü­nen Augen. Bron­co stampft ein­mal mit dem Vor­der­huf auf, und das Zit­tern reicht bis in die Knie­schei­ben des Del­ta­männ­chens: „Oh super,“ mur­melt das Del­ta­männ­chen. „Rie­si­ge, mord­lus­ti­ge Gar­ten­de­ko­ra­tio­nen. Genau mein Glück.“
„Da sind sie!“, schreit Thor­hardt mit Trä­nen in den Augen. „Sie wer­den mich als ihren Alpha aner­ken­nen. Komm, San­dy, lass uns einen Aus­ritt machen.“
Er streckt die Arme aus, als wür­de er erwar­ten, dass das Publi­kum ihn fei­ert. Statt­des­sen herrscht Stil­le. Ein lei­ses Räus­pern kommt aus der Ecke, wo das Del­ta­männ­chen steht.
„Ähm,“ mur­melt es, „aber… was, wenn die Ein­hör­ner das nicht genau­so sehen?“
Bron­co und Bron­co­li­na beweg­ten sich nicht mit gra­ziö­ser Ele­ganz. Nein, ihre Bewe­gun­gen waren schwer­fäl­lig, fast stör­risch, als ob sie selbst noch dar­über nach­däch­ten, ob das alles eine so gute Idee war. Aus ihren glü­hen­den Augen­höh­len blitz­te etwas auf – viel­leicht das Bewusst­sein, dass sie nicht in eine Welt gebo­ren wor­den waren, die für sie bereit war.

Und dann ist da Thor­hardt. Er tritt ihnen ent­ge­gen, sei­ne Brust geschwol­len vor Stolz, die Arme tri­um­phie­rend aus­ge­brei­tet, als wol­le er die gesam­te Stadt umar­men und gleich­zei­tig dar­an erin­nern, dass er der Alpha schlecht­hin war. „Mei­ne Krea­tu­ren!“ rief er, wäh­rend er mit­ten auf der Stra­ße ste­hen blieb, völ­lig unbe­ein­druckt davon, dass Bron­co und Bron­co­li­na in einem Tem­po auf ihn zu stapf­ten, das man in einer Klein­stadt bereits als „rasend schnell“ bezeich­nen könnte.
„Sie erken­nen mich als ihren Her­ren! Als ihren ALPHA!“
Bron­co und Bron­co­li­na hiel­ten nicht an.
„Kommt zu mir, mei­ne majes­tä­ti­schen Bes­ti­en! Ich bin euer Schöp­fer! Euer Anfüh­rer! Euer—“
Rumms.

Hier sei ange­merkt, dass es Momen­te im Leben eines Man­nes gibt, in denen er sich ein­ge­ste­hen muss, dass er viel­leicht nicht ganz so wich­tig ist, wie er dach­te. Für Thor­hardt war das genau die­ser Moment. Die bei­den Ein­hör­ner schie­nen kei­ner­lei Inter­es­se an sei­nem groß­ar­ti­gen Mono­log oder sei­ner zwei­fel­los beein­dru­cken­den Alpha­männ­chen-Aus­strah­lung zu haben. Statt­des­sen mar­schier­ten sie sto­isch wei­ter, als wäre Thor­hardt nicht mehr als ein wei­te­rer Pflas­ter­stein auf ihrem Weg – einer, der lei­der nicht aus Bron­ze war und daher unter ihrem Gewicht zu… sagen wir, „etwas ande­rem“ wurde.

San­dy ver­schränk­te die Arme. „Ich wür­de sagen, sie haben ihn… auf ihre Art akzeptiert.“
„Der Hoch­mut kommt vor dem Fall. Oder in sei­nem Fall: Vor dem Plattsein.“
„Also… was machen wir jetzt?“ frag­te das Del­ta­männ­chen schließlich.
„Ich schät­ze,“ sag­te San­dy, „wir ret­ten die Stadt.“
„Die Orts­ge­mein­de,“ kor­ri­gier­te sie der Pfarrer.
„Wir ret­ten die Orts­ge­mein­de. Wir müs­sen sie loswerden.“
Der Pfar­rer nick­te, die Stirn ernst in Fal­ten gelegt. „Aber wie? Sie sind rie­sig, aus Metall, und… ich glau­be nicht, dass sie auf mei­nen mora­li­schen Zei­ge­fin­ger hören.“

San­dy dach­te nach, ihre Augen ver­eng­ten sich. Plötz­lich schoss ihr Kopf nach oben, und ein brei­tes Grin­sen leg­te sich über ihr Gesicht. „Die Sandbahn!“
„Die was?“ frag­te das Del­ta­männ­chen, das augen­blick­lich das Gefühl hat­te, Teil eines Plans zu wer­den, der ihm nicht gefal­len würde.
„Die Sand­renn­bahn,“ erklär­te San­dy schnell. „Sie wird gera­de beto­niert. Wenn wir es schaf­fen, die Ein­hör­ner dort­hin zu locken…“
„Hm,“ brumm­te der Pfar­rer und strich sich über das Kinn. „Das könn­te funk­tio­nie­ren. Aber wie locken wir sie dorthin?“
San­dy dreh­te sich lang­sam zum Del­ta­männ­chen um, und ein Fun­keln trat in ihre Augen. „Mit einem Köder.“
Das Del­ta­männ­chen zuck­te zusam­men. „Oh nein. Nein, nein, nein. Wenn du dar­an denkst, dass ich…“
„Doch.“ San­dy grins­te. „Du bist per­fekt. Die Ein­hör­ner schei­nen auf Bewe­gung und… naja, klei­ne Männ­chen zu reagie­ren. Und rate mal, wer hier genau ins Pro­fil passt?“
„Auf Loser wie Thor­hardt!“ pro­tes­tier­te das Del­ta­männ­chen, obwohl sein zitt­ri­ger Ton ihm sofort widersprach.
„Du bist viel­leicht kein Thor­hardt, aber genau das macht dich so… unwi­der­steh­lich für die Ein­hör­ner. Außer­dem bist du schnell, oder? Schnel­lig­keit zählt jetzt!“
„Das ist kei­ne gute Idee,“ mur­mel­te das Del­ta­männ­chen und sah, wie die bei­den bron­ze­nen Gigan­ten wei­ter die Stra­ße ent­lang stampf­ten. „Die wer­den mich umbringen.“
„Nicht, wenn du schnel­ler bist. Komm schon, du wirst ein Held!“ sag­te San­dy, als wäre das das offen­sicht­lichs­te der Welt.
„Und… was, wenn ich nicht schnel­ler bin?“
„Dann warst du ein Held,“ warf der Pfar­rer tro­cken ein.

Wider­wil­lig trat das Del­ta­männ­chen aus dem Schat­ten auf die Haupt­stra­ße. „Hal­lo… äh, Ein­hör­ner?“ rief es, wobei sei­ne Stim­me nur leicht zit­ter­te. Bron­co und Bron­co­li­na hiel­ten kurz inne, ihre leuch­ten­den Augen fixier­ten ihn.
„Oh nein,“ mur­mel­te das Del­ta­männ­chen. „Das ist wirk­lich eine schlech­te Idee.“
„Lauf!“ rief San­dy von hin­ten. Und das tat er. Er sprin­te­te los, so schnell, wie sei­ne Bei­ne ihn tra­gen konn­ten. Die bei­den Ein­hör­ner, neu­gie­rig oder viel­leicht ein­fach nur irri­tiert von dem zap­peln­den, schrei­en­den Etwas vor ihnen, folg­ten ihm mit don­nern­den Schrit­ten. „Sie fol­gen ihm,“ flüs­ter­te der Pfar­rer beeindruckt.
„Natür­lich tun sie das. Er ist schließ­lich das per­fek­te Ziel: ner­vös, klein und, naja, leicht zu zer­quet­schen. Schnell, wir müs­sen vor ihnen dort sein.“

Das Del­ta­männ­chen rann­te, die Ein­hör­ner direkt hin­ter ihm. Ihre Hufe dröhn­ten über den Asphalt. Erschro­cke­ne Herx­hei­mer schau­ten aus ihren Fens­tern und sahen die bron­ze­nen Kolos­se, die einem klei­nen Männ­chen folg­ten. Die Sand­bahn war nicht mehr weit. Es war jetzt nur eine Fra­ge, ob das Del­ta­männ­chen durch­hielt… oder ob die Ein­hör­ner hung­rig genug für einen Snack aus purem Mut und Ver­zweif­lung waren. Die Sand­bahn lag vor ihnen wie ein Schlacht­feld in Vor­be­rei­tung. Über­all stan­den Beton­mi­scher, ihre Trom­meln bereits auf Hoch­tou­ren, wäh­rend der schwe­re, graue Brei rhyth­misch her­aus­schwappt und die frisch vor­be­rei­te­te Flä­che bedeck­te. Eine selt­sam sur­rea­le Sze­ne: der Pfar­rer, der mit der Ernst­haf­tig­keit eines Feld­kom­man­dan­ten über die Gerä­te wach­te, und San­dy, die mit grim­mi­ger Ent­schlos­sen­heit letz­te Hand­grif­fe erledigte.

„Da kom­men sie!“ rief San­dy, als sie das don­nern­de Stamp­fen der Ein­hör­ner hörte.
Das Del­ta­männ­chen war in Sicht­wei­te, schweiß­ge­ba­det. „Ich has­se euch alle!“ schrie es, wäh­rend es ver­zwei­felt über das offe­ne Feld rannte.
„Gut gemacht!“ rief San­dy. „Bleib auf der Beton­flä­che! Die Ein­hör­ner dür­fen sich nur dort festfahren!“
„Oh, groß­ar­tig!“ brüll­te das Del­ta­männ­chen zurück. „Ich soll also der Köder blei­ben, bis sie mich in den Boden stampfen?“
„Nur noch ein biss­chen!“ rief der Pfar­rer, der mitt­ler­wei­le an einem rie­si­gen Hebel stand, der die Beton­mi­scher synchronisierte.
Das Del­ta­männ­chen sprin­te­te über die Flä­che, wäh­rend Bron­co und Bron­co­li­na hin­ter ihm her­don­nern, ihre Hufe tief in den feuch­ten Beton ein­sin­kend. Genau wie San­dy geplant hat­te, brems­te sie das zähe Mate­ri­al zuneh­mend aus. Doch anstatt inne­zu­hal­ten, wirk­ten die Ein­hör­ner nur noch wüten­der. Ihre glü­hen­den Augen blitz­ten auf, und eines von ihnen – ver­mut­lich Bron­co – beug­te sei­nen mas­si­ven Kopf her­un­ter und schnapp­te mit sei­nem rie­si­gen bron­ze­nen Maul nach dem Deltamännchen.

Zeit­lu­pe: Das Del­ta­männ­chen stol­per­te, sei­ne Füße rutsch­ten im halb­flüs­si­gen Beton. Der rech­te Fuß steck­te mit­ten in der zähen Mas­se, als Bron­co sei­nen gigan­ti­schen Kopf her­ab­senk­te und das Bein des Del­ta­männ­chens mit einem metal­li­schen Klong zwi­schen sei­nen Zäh­nen packte.
„Hil­fe!“ schrie das Del­ta­männ­chen panisch und ver­such­te, sich aus dem Griff zu befreien.
„Hal­te durch!“ rief San­dy, rann­te über die Beton­flä­che und pack­te das Del­ta­männ­chen an den Armen. „Komm schon!“ Der Pfar­rer beob­ach­te­te die Sze­ne angespannt.
„Ich kann den Beton nicht län­ger zurück­hal­ten!“ rief er.
„Noch nicht!“ schrie San­dy zurück, ihre Mus­keln ange­spannt wie Stahl­sei­le. Ein letz­ter Ruck – und plötz­lich gab Bron­cos Griff nach. Das Del­ta­männ­chen flog rück­wärts in San­dys Arme, wäh­rend Bron­co mit einem ent­täusch­ten Knir­schen in den Beton zurückfiel.
„Jetzt!“ schrie Sandy.
Der Pfar­rer zog den Hebel.

Bron­co und Bron­co­li­na brüll­ten ein letz­tes Mal, ihre Bewe­gun­gen wur­den lang­sa­mer, als der graue Brei sie umhüll­te. Ihre gigan­ti­schen For­men erstarr­ten schließ­lich, bis nur noch ihre Köp­fe aus der Beton­flä­che rag­ten, gro­tes­ke Mahn­ma­le für Thor­hardts geschei­ter­ten Traum.

San­dy ließ das Del­ta­männ­chen los, das keu­chend auf den Boden fiel. „Das… war… furcht­bar,“ japs­te es.
„Aber du hast es geschafft,“ sag­te San­dy und klopf­te ihm auf die Schul­ter. „Das war ziem­lich beein­dru­ckend für jeman­den, der sich selbst für einen tota­len Ver­sa­ger hält.“
„Ich bin ein tota­ler Ver­sa­ger,“ mur­mel­te das Del­ta­männ­chen. Die drei sahen noch einen Moment zu, wie der Beton trocknete.
„Was jetzt?“ frag­te das Del­ta­männ­chen schließ­lich. San­dy warf einen Blick auf die Orts­ge­mein­de, die trotz allem immer noch stand. „Jetzt? Jetzt brin­gen wir das hier irgend­wie in Ordnung.“

Und mit die­sen Wor­ten gin­gen sie in die begin­nen­de Däm­me­rung, wäh­rend die bron­ze­nen Ein­hör­ner – gefan­gen im Beton – schwei­gend über eine Lek­ti­on wach­ten, die Thor­hardt nie ver­ste­hen würde.

Ende

 

Fra­gen für das kom­men­de Nachtcafé:

Wie soll der Titel des ers­ten Kapi­tels der neu­en Geschich­te sein, die wir am 30.01.2025 gemein­sam begin­nen? Bit­te gebt mir einen Song­ti­tel, der als Titel des Kapi­tels die­nen wird.
Hier eini­ge Vorschläge:

  1. “Let It Be” – The Beat­les (1970) (eine Per­son stimm­te dafür)
  2. “Hal­le­lu­jah” – Leo­nard Cohen (1984) (7 Per­so­nen stimm­ten dafür)
  3. “I Will Sur­vi­ve” – Glo­ria Gay­n­or (1978) (10 Per­so­nen stimm­ten dafür)
  4. “Its Rai­ning Men” – The Wea­ther Girls (1982) (18 Per­so­nen stimm­ten dafür)

Wer also beim Ent­ste­hen der neu­en Nacht­ca­fé-Geschich­te dabei sein will, der muss am 31.01.2025 um 21 Uhr ins Nacht­ca­fé kommen!

 

Euer Dani­lo Fioriti